Ein persönliches Zeugnis von Dr. Arnold G. Fruchtenbaum

Viele Leser dieser Worte werden schon früher Zeugnisse von Christen gehört haben darüber, wie Menschen dazu kamen, sich mit der Frage nach Jesus Christus auseinanderzusetzen. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied zwischen dem Zeugnis eines nicht jüdischen und dem eines jüdischen Christen. Nicht jüdische Christen fangen dabei oft mit ihrer eigenen Kindheit oder noch früher mit dem Glauben ihrer Vorfahren an. Doch das Zeugnis eines jüdischen Christen beginnt in einer viel weiter entfernten Vergangenheit.

Wenn ein Jude dem messianischen Anspruch Jesu begegnet, dann ruft das Probleme und Fragen hervor, deren Ursprunge viele Jahrhunderte weit zurückreichen. Jedes judenchristliche Zeugnis muß eigentlich damit anfangen, daß man die Worte Jesu liest, die im Lukasevangelium Kapitel 19, Vers 41-44, berichtet werden:

„Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zu deinem Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.“

Und in Lukas 21,24 lesen wir:

„Und sie werden fallen durch die Schärfe des Schwertes und gegangen weggeführt werden unter alle Völker, und Jerusalem wird zertreten werden von den Heiden, bis die Zeiten der Heiden erfüllt sind.“

Vierzig Jahre, nachdem Jesus dies angekündigt hatte, marschierten die römischen Legionen ins Land ein, und nach zweijähriger Belagerung Jerusalems eroberten sie die Stadt und zerstörten den Tempel. Das Volk der Juden wurde über die ganze Welt zerstreut. Von da an beginnt in der jüdischen Geschichte die Zeit der Diaspora oder Zerstreuung. Die Juden wurden tatsächlich in alle Welt vertrieben, und es folgten die Jahrhunderte ihrer Verfolgung. Sie mußten nicht nur ihr eigenes Land verlassen, sondern man zwang sie auch immer wieder, von einem Ort zum anderen und aus einem Land ins andere zu fliehen. Die jüdische Geschichte wurde seit dieser Zeit eine Geschichte der ständigen Flucht vor antisemitischen Verfolgern. Sobald sie in einer Ecke Europas eine Bleibe gefunden hatten, stand dort ein antisemitischer Herrscher auf und brauchte seine Macht dazu, die Juden gewaltsam aus dieser Gegend zu vertreiben, so daß sie sich irgendwoanders wieder eine neue Heimat suchen mußten. Damit wurden die Worte Moses buchstäblich erfüllt, wonach die Juden unter alle Völker der Erde zerstreut werden sollten.

Eine der großen Tragödien der Judenverfolgung in der Diaspora ist es, daß praktisch das meiste davon seit etwa dem vierten Jahrhundert im Namen Jesu Christi geschah. Weil so vielen Juden ihr Leid im Namen Jesu und im Namen des Kreuzes zugefügt wurde, hat sich im Empfinden des jüdischen Volkes eine so große Barriere zwischen „uns“ und „ihnen” aufgebaut. Letztere sind die Heiden oder Christen (für einen Juden sind diese beiden Begriffe synonym), die einen Gott verehren, der Jesus heißt, und in dessen Namen verfolgen und töten sie die Juden. Das wurde zum entscheidenden Hindernis für die Verbreitung des Evangeliums unter den Juden.

Die Frommen von Polen

Vor dem ersten Weltkrieg öffnete Polen seine Grenzen für jüdische Fluchtlinge aus allen Teilen Europas, die der Verfolgung entkommen wollten. Gegen Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts kamen zuerst Tausende und schließlich Millionen von Juden nach Polen. Als der erste Weltkrieg begann, bestand die jüdische Gemeinde in Polen aus etwa drei Millionen Menschen und war damit die größte in der Welt. Unter den polnischen Juden gab es schon länger eine religiöse Sekte, die sich nun mehr und mehr ausbreitete, bis sie am Ende das ganze Judentum durchdrang. Diese Leute wurden bekannt als die Chassidim (wörtlich “die Frommen“), die Ultra-Orthodoxen. Man konnte sie stets in ihren schwarzen Gewändern mit großen Pelzmützen sehen, sie trugen lange Bärte und Schläfenlocken – ihre traditionelle Tracht. Sie hielten sich für die theologischen Nachkommen der Pharisäer aus der Zeit des Neuen Testaments und setzten sich für eine strenge Einhaltung des mosaischen Gesetzes wie auch der rabbinischen Überlieferungen aus den früheren Jahrhunderten ein. Nachdem ihr Gründer gestorben war, spaltete sich die chassidische Bewegung in mehrere Gruppen auf, entsprechend ihrer geographischen Zugehörigkeit. Eine solche Gruppe wurde von einem Mann geleitet, den man Rebbe nannte und der etwas Ähnliches wie ein Rabbiner war. Die Macht eines Rebbe war aber viel größer als die eines Rabbiners und ging mit der Geburt vom Vater auf den Sohn über.

Die Leitung einer dieser Gruppen, bekannt als die Satmarer Chassidim, ging in die Hände der Fruchtenbaum-Familie über. Mein Großvater, vor ihm sein Vater und dessen Vater waren Leiter dieser orthodoxen Gruppe. Ich möchte ihnen ein Beispiel dafür geben, wieviel Zeit mein Großvater mit dem Schriftenstudium zubringen mußte, ehe er Leiter werden konnte. Im Alter von 13 Jahren hatte er die 5 Bücher Mose auf Hebräisch auswendig gelernt, mit 18 Jahren konnte er das ganze hebräische Alte Testament auswendig. Als er 21 Jahre alt war, machte er eine abschließende Prüfung. Sie bestand darin, daß er eine hebräische Bibel erhielt, ein sehr dickes Buch. Jemand anders zeigte dann mit dem Finger auf eine Stelle auf dem Deckel der geschlossenen Bibel und an dieser Stelle wurde ein Nagel in das Buch eingeschlagen. Mein Großvater mußte dann aus dem Gedächtnis angeben, durch welches Wort auf jeder einzelnen Seite in der richtigen Reihenfolge der Seitenzahlen der Nagel hindurchgedrungen war. Das ist eine gute Methode, um die Bibel zu lernen! Der Grund für ein so rigoroses Auswendiglernen bestand darin, daß die Bibel in dieser Gruppe die Grundlage für alles Lernen und Studieren darstellte. Den Rest seines Lebens verbrachte mein Großvater mit dem Studium der prophetischen Kommentare und Überlieferungen der jüdischen Väter. Aber was er las, konnte er nie selbständig beurteilen. Sein Verständnis dafür war lange vor ihm durch die rabbinischen Lehren festgelegt worden. So wich er nicht ab von allem, was die früheren Rabbinen über die Bedeutung dieses und jenes Wortes gesagt hatten. Obwohl er die Bibel so gut kannte, war er doch nicht imstande zu erkennen, daß Jesus der Messias ist.

Von Zeit zu Zeit tauchen neue Fragen auf, die von Mose oder den Rabbinen noch nicht behandelt worden sind Hier muß der Schriftkundige neue Gesetze und Vorschriften für die jüdische Gemeinschaft aufstellen. In der neuen Welt Amerikas entdeckte man Dinge, die dann nach und nach auch in Europa weiter verbreitet wurden. So kamen nach dem ersten Weltkrieg in manchen Gegenden Polens zum erstenmal Tomaten auf den Markt. Aber Mose hatte den Juden nicht gesagt, ob Tomaten koscher sind. Konnte ein Jude Tomaten essen und dabei die jüdischen Speisevorschriften richtig einhalten? In der jüdischen Gruppe erhob sich also eine große Debatte über Tomaten. Es gab eine Pro-Tomaten-Partei und eine Anti-Tomaten-Partei, und schließlich sandten beide Seiten eine Delegation zu meinem Großvater. Er empfing die Delegierten, hörte sich die Argumente beider Seiten an und bat sie, in einer Woche wiederzukommen. Dann kaufte er sich einige Tomaten, schnitt sie in verschiedenen Größen auseinander, sah sich ihre Farbe, Schale, Samenkörner und den Inhalt an. Er studierte seine rabbinischen Schriften und Überlieferungen. Als die Delegation nach einer Woche wieder bei ihm vorsprach, hatte er entschieden, daß Tomaten koscher seien und daß man sie mit Genuß essen darf. Seitdem essen die europäischen Juden ohne Bedenken Tomaten.

Seine strenge Orthodoxie trug schließlich zu seinem Tode bei. Es war am heiligsten Tag des jüdischen religiösen Kalenders, an Jom Kippur, dem Großen Versöhnungstag. als man bei ihm eine Blinddarmentzündung feststellte. Wegen der Heiligkeit dieses Tages lehnte er jede medizinische Behandlung ab, ehe nicht die vollen 24 Stunden des Jom-Kippur-Tages vorüber waren. Bis dahin war aber der Blinddarm durchgebrochen, und an demselben Abend starb er.

Mein Vater

Mein Vater Henry (Chaim) Fruchtenbaum war der erstgeborene Sohn in einer langen Reihe von erstgeborenen Söhnen. und er wuchs auf in der polnischen Stadt Pultusk. Beim Tode meines Großvaters war mein Vater 3 Jahre alt. Er wurde von seinem Großvater erzogen, der praktisch zu seinem neuen Vater wurde. In dieser Familie waren 12 andere Kinder, teils älter, teils jünger. Obwohl sie alle seine Onkel und Tanten waren, verstanden sie sich untereinander als Geschwister. Auch der Großvater meines Vaters, Baruch Simcha Fruchtenbaum, starb an Jom Kippur im Jahre 1937, als mein Vater 18 Jahre alt war.

Ebenso wie sein Vater wurde auch mein Vater darauf vorbereitet, die Leitung der chassidischen Gruppe zu übernehmen. Er mußte sich demselben Schulungsprogramm wie mein Großvater unterziehen. Außerdem kam er in eine Ausbildung als Photograph. Sein Schriftstudium mußte jedoch am 1.9.1939 abgebrochen werden, als die Deutschen in Polen einmarschierten und damit der Zweite Weltkrieg ausbrach.

Mein Vater hatte so etwas wie einen 6. Sinn für tödliche Gefahren. Als die Deutschen Polen besetzten, ahnte er, daß die Juden in Gefahr waren. Er beschloß, nach Rußland zu gehen, und bat die anderen Familienmitglieder, mit ihm zu kommen. Aber niemand hörte auf ihn, und so floh mein Vater ganz allein. Als die anderen merkten, wie recht er gehabt hatte, war es zu spät. Nachdem der Holocaust vorüber war, waren 7 der 13 Verwandten mit ihren Ehegatten und Kindern umgekommen: einige im Warschauer Ghetto, einige in Auschwitz, einige im Ponary-Wald bei Wilna, die meisten in Treblinka. 6 Verwandte überlebten, und davon zogen 5 mit ihren Familien nach Israel, während mein Vater später in die USA übersiedelte.

Die Flucht nach Rußland rettete zwar sein Leben, aber sie brachte ihn in große Not. Die Russen hatten mit den Juden nicht mehr Mitleid als die Deutschen. Obwohl mein Vater ein Jude war, wurde er von den Russen kurz nach dem Grenzübertritt beschuldigt, ein Nazispion zu sein. Man nahm ihn fest und brachte ihn in ein Konzentrationslager in Sibirien, wo er die folgenden zwei Jahre seines Lebens zubringen mußte.

1941 brachen die Deutschen ihren Pakt mit Stalin und griffen die Sowjetunion an. Damit begann eine neue Phase des Krieges. Jetzt brauchten die Russen die Unterstützung der polnischen Exilregierung, die sich in England aufhielt. Die Polen sagten ihre Unterstützung zu unter der Bedingung, daß alle polnischen Staatsangehörigen aus den russischen Konzentrationslagern entlassen würden. Da mein Vater Pole war, kam er also frei. Aus dem gleichen Grunde wurde damals auch Menachem Begin aus dem russischen Gefängnis entlassen. Aber weil die Deutschen damals weite Gebiete im europäischen Rußland besetzt hatten, beschloß mein Vater, bis zum Ende des Krieges in Sibirien zu bleiben. Doch er mußte von etwas leben, und Arbeitsplätze gab es nicht. Da war es gut, daß er zuvor den Beruf eines Photographen gelernt hatte. Der Krieg und Stalins Massendeportationen seiner eigenen Bevölkerung führten zu einem großen Bedarf an Fotos für Pässe und andere offizielle Dokumente. Jedermann brauchte Bilder, und mein Vater hatte damit ein stetiges Einkommen. Bei seiner Arbeit lernte er dann auch meine Mutter kennen. Auch sie war gezwungen worden, nach Sibirien umzusiedeln, und brauchte Bilder für amtliche Papiere. Einige Monate später heirateten sie, und am 26. September 1943 wurde ich in Tobolsk geboren. Ich erhielt den russischen Namen Aritschek Genekowitsch Fruchtenbaum.

www.gemeindenetzwerk.org/?p=6787#more-6787

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

* Ich stimme zu

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.