Fußball: Ein schönes Spiel. Mehr nicht.

In Brasilien war Fußball einmal die vorherrschende Zivilreligion. Das Pantheon dieser Religion hieß Pele, Socrates, Zico, Rivaldo et al. Ja wie sie alle heißen, diese Poeten der Fußballkunst. Heute redet man ebenfalls über Philosophie, Spielsystem werden zu Lebensanschauungen erhoben. “Fußball ist Religion. Willkommen im Tempel.” war einmal an der Frankfurter Commerzbank-Arena zu lesen, als ich noch regelmäßiger Besucher war.

Dieser proletarische Männersport, der er einmal war, ist heute ein Gesellschaftsphänomen. Es wurde durch Marken wie Adidas erstmals gesellschaftsfähig gemacht, durch die Massenverwertung von ARD und ZDF geriet es in einen einmaligen Professionalisierungsprozess, doch was wir die letzten zehn Jahre erleben, entzieht sich jeglichen sozialen Phänomenen. Seit einige Marketingstrategen angefangen haben große Fußballleinwände in die Städte zu bauen, eine Art Party für jederman zu gestalten, ist dieses Fest selbst für Frauen interessant.

Das was früher nur Sportschau, Bier und Chips war ist heute Identifikation, Party und Politikum. Letzteres resultiert aus dem immer größer werdenden medialen und gesellschaftlichem Interesse. Früher, als nur Männer dieses Proletenspiel schauten, interessierten sich Politiker einen Scheiss für Sport. Heute, wo das alle schauen, muss auf einmal Propaganda gegen die Ukraine gemacht werden, die sich gegen die EU beachtsam wehrt. Tymoschenko in aller Munde. Das ganze lässt schon jetzt den Hauch von Anbiederei verspüren.

Zurück zum Fußball: ob Franz, Mesut oder der offenbar begnadete Marco Reus: Ihre langen Pässe aus dem Fußgelenk in den “freien Raum” (oh wie erfreue ich mich des Fußballjargons), haben die Macht dieses Spiel auf eine höhere Ebene zu heben. Ihre Übersicht, der Moment der Überraschung, eine Unberechenbarkeit, das “wahrhafte Zusammenspiel” – kurzum, die erspielte Freiheit, und sei es nur auf kleinem Raum.

In diesen Momenten entfaltet sich die entschiedende Differenz zur überraschungs- und führeungslosen Politik unserer Tage: Europa ist festgefahren (ähnlich wie das festgefahrene Spiel von Bayern München mit endlosen Querpässen).  Wenn es gut geht, dann kann die deutsche Nationalmannschaft uns noch ein paar Szenen zeigen, wo es auch anders geht. Dann wäre bewiesen, was immer noch gilt: Fußball hat mich Politik nichts zu tun, wenn er sich als das begreift, was er wirklich ist: Ein schönes Spiel. Mehr nicht.

Für deutsche Bürger ist es leider mehr. Ablenkung von Alltag, und das auch völlig zurecht. Gequält von den Hiobsbotschaften dieser Tage sind uns Brot und Spiele Recht. Doch Vorsicht: Den Politikern ist diese Ablenkung auch Recht. Diese Mischung war noch nie gut, wenn das Volk verwöhnt und die Politiker zu besessen von Macht sind. In dieser Hinsicht ist das mehr als ein Spiel.

Diese Euphorie – die zugegebenermaßen in Deutschland noch nicht so recht entfacht wurde – ist karikierend für unsere Gesellschaft: Ablenkung von Alltag, möglichst schnell und hoffentlich konstant. Nach der EM ist vor der WM, nach dem Spiel folgt die Party. Zeit für einen Gedanken über das Leben bleibt da nicht. Das ist das Schicksal eines gottlosen Wohlstand-Volks, das sich dem realen Leben entzieht: Wir bevorzugen die bequemliche Abhängigkeit mit viel Vergnügen im Tausch gegen Sinn und Verstand!

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