Glaubst du an Engel? Ich schon! Nicht nur an Weihnachten.

Ich hatte den Zug verpasst und wusste, dass es eine ganze Zeit dauern würde, bis ich wieder Anschluss finden konnte. Im Wartesaal war ich zunächst ein bisschen unschlüssig, wohin ich mich setzen sollte. Schließlich entschied ich mich für einen Tisch in der Ecke und ließ mich dort nieder. Draußen zog ein winterlicher Sturm auf. Es heulte nur so ums Bahnhofsgebäude herum. Vielleicht war es dies, was meinen Nachbarn am Tisch dazu brachte, nach einigem Räuspern mit mir ein Gespräch anzufangen und schließlich seine Geschichte zu erzählen:

Es ist ein paar Jahre her, dass ich nach ziemlich anstrengenden Wochen in den Spessart fuhr, um mal so richtig auszuschnaufen. Mit dem D-Zug bis Frankfurt und dann von da aus mit dem Personenzug Richtung Aschaffenburg, hinauf in den Spessart. Schon in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember war es kälter geworden, und am 24. morgens fing es an zu schneien.

Von Frankfurt an waren einige Läute mit mir im Abteil zusammen. Zunächst beteiligte ich mich nicht an ihren Gesprächen. Aber später – gab ein Wort das andere. Und so erfuhr ich manches von dieser schönen Spessartgegend.

Von Station zu Station wurden es weniger, die mit uns fuhren. Zuletzt waren es außer mir nur noch zwei Läute im Abteil. Und als ich mich erkundigte, wie lange es noch dauern würde, da sagten sie mir:
„Nun so ungefähr 15 bis 20 Minuten, dann sind Sie da.“ Als die beiden ausstiegen, wandte sich einer noch einmal um und sagte:
„Also, wenn der Zug wieder hält – bei der nächsten Station -, dann müssen Sie aussteigen!“

Der Zug fuhr weiter und ich war nun sehr gespannt darauf, was mich da erwarten würde. Vorsichtshalber zog ich mir den Mantel an und machte mich fertig, um gleich bereit zu sein, wenn der Zug hielt. Und es dauerte auch nicht lange, da ruckte er plötzlich – und stand. Ich öffnete die Tür – noch immer dichtes Schneetreiben. Ich schaute nach unten. So ein kleiner Bahnhof wird nicht viel Bahnsteig haben, dachte ich. Ich kletterte runter, einen Koffer in der Hand, eine Handtasche über der Schulter, und als ich mich ein wenig orientieren wollte, ruckte der Zug wieder an und fuhr los. Ich schrie:
„Halt, Halt! Ich muss noch mit! Hier ist ja gar kein Bahnhof!“
Aber der Zug war schon so im Rollen, dass ich nicht mehr aufspringen konnte. Da stand ich nun und sah nur noch die roten Lichter verschwinden. Na, zuerst einmal habe ich geschimpft:
„So ein Blödsinn, hier in der Nacht auszusteigen!“ Aber schließlich war ich derjenige, der sich zu genau an die Formulierung gehalten hatte: „Beim nächsten Halten müssen Sie schnell aussteigen – der Zug hält nur kurz!“ Ein bisschen verstört war ich schon. Was sollte ich jetzt machen? In dem Schneetreiben war weit und breit kein Licht zu sehen.

Ich stapfte durch den Schnee. Immer an den Gleisen entlang. Es läuft gar nicht so einfach, wenn man von Schwelle zu Schwelle Schritte macht. Und schon gar nicht balanciert es sich gut auf den vereisten Schwellen. Dabei musste ich ja immer noch ein Ohr sozusagen nach hinten haben, um einen eventuell kommenden Zug nicht zu überhören. Zuerst ging´s ja noch. Aber das gewicht des Koffers wurde schwerer. Immer häufiger musste ich eine Verschnaufpause einlegen. Wenigstens wurde es nun mit dem Schneetreiben besser. Bald hörte es ganz auf und ich konnte wenigstens einige Konturen erkennen. Rechts und links Felder, die begrenzt waren von den dunklen Wäldern. Jetzt riss sogar der Himmel auf und Mondschein huschte über den Schnee. In seinem Licht sah ich, gar nicht weit entfernt, einen Viadukt. Na, dachte ich, dort muss doch irgendeine Straße sein.

Plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen. Denn aus dem Schatten hatte sich ein Gestalt gelöst und war ein paar Schritte in das Mondlicht getreten, sodass ich sie nicht übersehen konnte. Ich erschrak. Was macht der hier um diese Zeit? Was hat der vor? Ich blieb stehen und rief die Gestalt an:
„Hallo! Hallo, wer sind Sie?“ Und ich habe meine kleine Geschichte hinausgerufen zu ihm hin:
„Ich bin hier zu früh ausgestiegen und laufe jetzt schon eine ganze Zeit die Schienen entlang. Ich möchte nach H. Können Sie mir helfen? Bitte!“

Keine Antwort. Aber der Gestalt rührte sich auch nicht vom Fleck. Hatte ich mich vielleicht doch getäuscht? war´s nur irgendein Strauch, ein bisschen bizarr überzuckert vom Schnee, der mit seinem Schattenwurf einer Gestalt glich? Ich ging ein paar Schritte weiter. Da bewegte sich der Schatten, kam den Bahndamm herunter – jetzt wusste ich, es war ein Mensch in dieser weiten Einsamkeit. In dieser Nacht, wo eigentlich der Mensch dem Menschen nicht fremd sein sollte. Ich rief ihn wieder an: „Bitte, helfen Sie mir!“ Noch immer keine Antwort. Aber die Gestalt blieb stehen. Nun konnte ich auch beim Näherkommen einen Mann erkennen mit einem tief ins Gesicht gezogenen Hut und in einen Lodenmantel gekleidet.
„Ich bitte Sie um Verzeihung, wenn ich Sie gestört habe. Aber ich bin in einer blöden Situation und brauche dringend Hilfe. Seien Sie so freundlich und zeigen Sie mir den Weg nach H.“

Ich machte noch ein paar Schritte auf ihn zu und stellte dann stumm meinen Koffer vor ihm nieder. Ich schaute das Gesicht eines Mannes an – er mochte um die vierzig herum sein -, ein verkniffenes Gesicht, und ich wiederholte meine Bitte. Er brummte etwas in sich hinein, nahm meinen Koffer auf, und so gingen wir zunächst einmal vom Bahndamm weg zu der Straße hin, die über den Viadukt führte.
In meiner Freude, jemanden gefunden zu haben, sprudelte ich nur so heraus:
„Was bin ich Ihnen dankbar, dass Sie hier waren. Sie schickt der Himmel! Ich weiß nicht, ob ich das bis nach H. geschafft hätte, allein auf den Gleisen entlang. Ein Glück, dass ich Sie getroffen habe! Damit hätte ich kaum zu rechnen gewagt.!“

Er sagte immer noch nichts. Mir wurde langsam unheimlich. Nur immer so ein Brummen:
„Hm, hm, hm“, und: „Da lang!“ Nun, ich wollte sein Schweigen respektieren und sagte auch nichts mehr. Und so gingen wir hintereinander her.

Nach ein paar Hundert Metern kamen wir um eine Straßenkurve, und da stand ein Auto.
„Ist wohl Ihres,“ sagte ich. Und er nickte mit dem Kopf. Wir öffneten den Kofferraum des Wagens, er legte mein Gepäck hinein, und mit einer Handbewegung, wiederum ohne etwas zu sagen, öffnete er die Tür neben dem Fahrersitz und ließ mich Platz nehmen. Er setzte sich ans Steuer, ließ den Wagen an, und dann fuhren wir auf der verschneiten Straße langsam voran.

Plötzlich, ganz unvermittelt, fragte er mich:
„Glauben Sie an Engel?“ Ich war ganz perplex – nach so langem Schweigen, nach so viel Zurückhaltung jetzt solch eine Frage.
„Ja, schon“, erwiderte ich. „An so einem Abend, da ist einem das ja auch viel näher als sonst. Jetzt, wo da und dort die Weihnachtsgeschichte gelesen wird, von den Hirten und Engeln…“ Ich weiß nicht, was ich noch alles hinzufügte. Plötzlich unterbrach er mich und vertiefte seine Frage von vorhin:
„Glauben Sie an Engel – heute?“
– „Ich weiß nicht recht“, sagte ich, „Engel heute?“ Zögernd sagte ich das, spürte aber wohl, dass er auf mehr wartete. Und ich fuhr fort: „Ja, Engel heute – wissen Sie, vielleicht so, dass wir es gar nicht mehr merken, weil sie uns nicht in jener Lichtgestalt begegnen wie damals auf den Feldern von Bethlehem. Etwas, was ihn bewahrt. Oder was ihn führt. Oder…“

Da platzte er plötzlich heraus:
„So einer sind Sie für mich heute! Sie werden das kaum glauben!“

„Ich? Wieso…?“, fragte ich zurück. Und dann erzählte er – zunächst zögernd, dann immer ausführlicher.
„Ich bin heute an die Bahnlinie gefahren, habe mein Auto dort hingestellt – und wollte mich umbringen. Ich hielt es einfach nicht mehr aus, das Leben. Ich lebe allein, müssen Sie wissen, und war heute an so einem Tiefpunkt angelangt, dass ich gedacht habe: Mach doch einfach Schluss!“ Und dann sprach er davon, was ihn alles dazu gebracht hatte, diesen Entschluss zu fassen. Und er endete damit: „Dann kamen Sie – gerade im richtigen Augenblick für mich. Und – merkwürdig – Sie riefen mich an, dass ich Ihnen helfen soll. Mich, der entschlossen war, Schluss zu machen!“ Und er schüttelte den Kopf, so, als könnte er noch immer nicht glauben, was ihm widerfahren war: „Mir, am Heiligen Abend – ein Engel begegnet!“ Und zum ersten Mal sprach er von Gott und sagte:
„Hat der liebe Gott mich doch nicht im Stich gelassen!“

Viel haben wir hinterher nicht mehr geredet. Er fuhr mich bis zu dem Ort und ließ mich dann am Marktplatz aussteigen, zeigte mir die Richtung, wo der Gasthof war, stieg in sein Auto und rief:
„Danke! Sie glauben gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin!“ – und fuhr davon. Den Heiligen Abend werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Manchmal denke ich, auf welch seltsame Weise Wege ineinander verschlungen sind und Begegnungen stattfinden, die man sich nicht ausgesucht hat. Und ich denke an ihn, diesen etwa Vierzigjährigen, der in die Nacht davonfuhr. Aber es war die Nacht, in der Menschen einander zusingen: „Christ, der Retter, ist da!“

Diese Geschichte erzählte mir mein Tischnachbar, damals, im Wartesaal, als ich meinen Zug verpasst hatte. Es ist schon Jahre her, aber ich kann sie nicht vergessen.

Kuhn, Johannes. Glauben Sie an Engel?

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