Aus Liebe zu Jesus

2009 reisten die Bibelschülerinnen Anita und Rita in den Jemen, um in einem Krankenhaus zu helfen. Dort wurden sie von Extremisten hingerichtet. Erstmals gehen die Familien nun an die Öffentlichkeit

Am 12. Juni 2009 versuchten Rita und Anita ein letztes Mal, Menschen mit gebrochenen Armen, schmerzenden Zähnen oder akutem Darmverschluss zu behandeln. Mit Medizinern und anderen Krankenhausmitarbeitern fuhren sie hinaus in die Wüstenregion Nordjemens, um in abgelegenen Dörfern erste Hilfe anzubieten. Irgendwo dort versperrte ihnen plötzlich ein Geländewagen die Durchfahrt. Bewaffnete Männer drängten sie, in das Auto einzusteigen. Am nächsten Tag wurden die Leichen von Rita, Anita und einer koreanischen Kollegin entdeckt. Die Augen verbunden, die Hände gefesselt, erschossen.

Als die deutsche Öffentlichkeit vom Mord an den beiden Schülerinnen einer westfälischen Bibelschule erfuhr, wurde ein verzerrtes Bild der Ereignisse gezeichnet: Zwei junge Frauen seien in der Bibelschule zu todgeweihten Fanatikern ausgebildet worden, die im Jemen grob fahrlässig missioniert hätten, um daraufhin von muslimischen Extremisten hingerichtet zu werden. Diese Deutung verletzte die Angehörigen der Opfer derart, dass sie für lange Zeit die Öffentlichkeit mieden. Nun aber berichten sie erstmalig in einer Dokumentation des Fernsehsenders Bibel-TV über Schmerz und Trost, aber auch über das Vermächtnis der beiden Ermordeten – womit dem Filmemacher Joachim Auch ein tiefer Einblick in die Lebenswelt zweier Familien gelungen ist, die in frommen Kreisen als Märtyrerfamilien gelten.

Dass die Medien diesem Phänomen damals nicht gerecht wurden, macht der Film fast verständlich. Denn was die Ermordeten bis zum Tod antrieb und ihren Angehörigen seitdem Halt gibt, dürfte vielen Skeptikern und Agnostikern geradezu befremdlich erscheinen: „Liebe zu Jesus“. Diese Worte waren auch die letzten, die Anita in ihren Kalender eintrug, neben den Flugzeiten für die Hin- und Rückreise. Immer wieder hatten Anita, die Kinderkrankenschwester, und Rita, die Verwaltungsfachkraft, ihren Eltern vor der Abreise erzählt, sie müssten einfach den Ärmsten der Armen in aller Welt helfen – erst in Malawi, nun im Jemen. Sie fühlten sich „von Gott so geliebt“, dass sie jetzt „etwas von dieser Liebe abgeben“ wollten. Deshalb reisten die Cousinen, Baptistinnen und Töchter volksdeutscher Einwanderer im Frühjahr 2009 nach Jemen. Ein Praktikum an einem christlich geführten Krankenhaus hatte ihnen die westfälische Bibelschule vermittelt – um Erfahrungen für den karitativ-missionarischen Einsatz zu sammeln, nicht aber, so die Schulleitung, um zu missionieren.

Trotzdem wurde in etlichen Medien behauptet, die beiden Frauen seien leichtfertigerweise zur Mission in das streng islamische Land gereist, in dem die Werbung für nichtmuslimische Religionen gesetzlich untersagt ist. Gegen diesen Verdacht wehren sich die Angehörigen im Film. Zu Recht? Auch große freikirchliche Missionswerke räumen ein, dass es eine Grauzone gebe zwischen einer Verkündung der frohen Botschaft durch Taten und einer Verkündung durch Worte. Detlef Blöcher, der Leiter der Deutschen Missionsgesellschaft, argumentiert zum Beispiel, gerade in der islamischen Welt sei Religion „das natürlichste Gesprächsthema“. Dort lasse sich ein Austausch über Glaubensüberzeugungen oft kaum verhindern. Nur in den „westeuropäischen Kulturen“ werde dieses Thema aus der Öffentlichkeit weitgehend verbannt, und nur hier sei es „hoch peinlich“, wenn jemand religiöse Fragen anspreche – anders als in „fast allen anderen Kulturen der Welt“.

Selbstverständlich wussten die Bibelschüler, dass es vor Ort schnell zu solchen Gesprächen kommt. Aber darf man ihr Praktikum deshalb als selbstmörderische Missionsoffensive werten? Immerhin war es ja die jemenitische Regierung, die die frommen Christen dort seit drei Jahrzehnten im staatlichen Krankenhaus arbeiten ließ, weil sie von ihrem karitativen Einsatz so überzeugt war. Hier wurde medizinische Hilfe effektiv organisiert und angeboten – vom Zähneziehen bis zum Knochenschienen. Als Missionszentrum verstand die Regierung das fromme Krankenhaus nie.

Das schreckte hiesige TV-Kommentatoren nicht ab, die Bibelschülerinnen mit islamistischen Selbstmordattentätern auf eine Stufe zu stellen. Dass solche Kommentare den Unterschied zwischen risikofreudiger Hilfsbereitschaft und dem Willen zum Töten verwischen, schmerzt die Angehörigen. Sie zeigen aber auch Verständnis dafür, dass die fremde Welt opferbereiter Christen manch Außenstehendem offenbar so viel Unbehagen einflößt wie die Mordlust islamistischer Extremisten. Denn fremd kann so manches wirken, was der Film zutage fördert.

Zum Beispiel die Art, wie die Hinterbliebenen die Todesnachricht verarbeiteten. Natürlich berichten die ergrauten Eltern mit glasigen Augen, wie sie anfangs ihren Gott anbrüllten, wo er denn gewesen sei, als ihre Töchter seine Hilfe gebraucht hätten. Natürlich denken sie an die Gespräche im Wohnzimmer zurück, als der Beschluss zur Jemenreise getroffen wurde und die besorgten Eltern („Warum muss es Jemen sein? Das ist doch gefährlich“) den Plänen ihrer Töchter dann doch ihren Segen gaben. Und natürlich weint die kleine Schwester, wenn sie sich daran erinnert, wie sie mit ihrer großen Schwester in der Küche Salsa tanzte. Wie soll es auch anders sein, wenn zwei junge Menschen voller Liebe, Tatendrang und Enthusiasmus plötzlich ausgelöscht werden?

So weit dürfte die Reaktion der Angehörigen vertraut erscheinen. Etwas anders steht es wohl mit dem Trost, den die Angehörigen fanden. Da erzählt der eine Vater, ein ruhiger Mann mit tiefer Stimme, wie ihm beim Joggen auf einem Feldweg eine Vision zuteil geworden sei: Mit einem Mal habe er „am Himmel Rita und Anita gesehen“, über den Wolken, glücklich, wie sie Blumen streuten. In dem Moment habe er geahnt, wie herrlich das unvorstellbare Wiedersehen mit den beiden eines Tages im Jenseits werde. Ja, in diesem Augenblick habe er etwas von Auferstehung gespürt.

Der andere Vater teilte den Glauben der Tochter während ihres Lebens dagegen nicht. Nun aber spricht er in die Kamera, er hoffe von Herzen, seine Tochter könne sehen, dass er jetzt ebenfalls an Gott glaube und zur Kirche gehe. Und die kleinen Schwestern von Rita und Anita erzählen, während sie auf einem Bett vor sich hin weinen, sie hätten das Gefühl, ihre großen Schwestern wünschten ihnen weiterhin „Spaß am Leben“. Unbestreitbar: Die beiden Ermordeten sind auch zwei Jahre nach ihrem Tod in ihren Familien gegenwärtig. Die Angehörigen führen aber auch vor Augen, wie radikal sich derart ernsthafter Glaube auswirken kann: Da sagt der Bruder tröstend und halb zu sich selbst, Anita und Rita gehe es jetzt „tausend Mal besser als uns“. Und eine Freundin stimmt zu, Anita und Rita würden Gott jetzt nicht fragen, warum er sie von der Erde geholt habe, die würden sich der himmlischen Herrlichkeit erfreuen. Ähnlich formulieren fast alle erwachsenen Angehörigen – in oft sehnsüchtigem Ton – den radikal relativierenden Gedanken, das Diesseits sei doch eher Zwischenstation und die ganz andere Welt bei Gott das wahre Ziel.

In größere Zusammenhänge eingeordnet wird dieser Lebensstil durch den Studienleiter der Bibelschule Brake. Der erklärt, die Nähe zu Tod, Jenseits und Martyrium sei urchristlich und so etwas wie der Normalzustand christlicher Existenz, schon die ersten Christen seien meist als Märtyrer gestorben. Und Jesus persönlich habe derlei Verfolgungen ja angekündigt. In Asien und Afrika seien sich viele Gläubige dessen auch bewusst, nur im Erste-Welt-Christentum sei diese Einsicht verloren gegangen. Vorläufig. Ein bisschen irdischen Trost bietet der Film aber auch – mit der Erkenntnis, dass die Lebensgeschichten der Ermordeten schon jetzt „Frucht tragen“: Da sind der bekehrte Vater und andere Bekannte, die erst durch Ritas und Anitas Schicksal zum Glauben fanden. Vor allem aber ist aus dem Sterben der beiden ein Kinderheim für 100 Waisen in Malawi erwachsen. Dort ein Heim zu gründen, hatten Rita und Anita stets als Traum bezeichnet. Nach ihrem Tod riefen die Familien zu Spenden auf, um den Traum zu verwirklichen. Einige Dutzend Kinder sind bereits aus Armut, Unterernährung und Analphabetismus in dieses Heim entkommen. Das Engagement für diese vom Tod bedrohten Kinder bezeichnen die Mütter von Rita und Anita als geradezu therapeutisch heilsam, weil sie in dieser Arbeit aus ihrer Ohnmacht herausfänden. Und weil sie beobachten könnten, wie aus dem schrecklichen Sterben der Töchter schon hier auf der Erde neues Leben erwachse.

Am Ende des Films singt der Chor der baptistischen Heimatgemeinde von Rita und Anita ein Lied über das Jenseits, dessen Text bei Menschen außerhalb urchristlicher Kreise Befremden auslösen könnte: „Dann wirst du staunen und versteh’n: Alles hatte seinen Sinn. Und du wirst sehn: Ich hatte alles in der Hand!“ Auf Atheisten mag das absurd wirken. Für die Angehörigen klingt es nach Wahrheit, die sich im Schmerz offenbart.

„Anita und Rita. Vom Leben und Sterben zweier Bibelschülerinnen“ wird am 22. April, um 21.45 Uhr auf Bibel TV ausgestrahlt. Ab sofort ist der Film online auf www.bibeltv.de/mediathek/doku zu sehen.

Quelle: welt.de

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