Der Lokführer und seine allerletze Fahrt an Heilig Abend. Pünktlichkeit spielt hier keine Rolle.

Der Zug fährt durch die Nacht. Durch die Schneelandschaft, an den Dörfern vorbei. Seine Lichter brennen hell. Für Augenblicke erleuchten sie die Umgebung. Die Weichen sind nicht gefroren, die Signale auf freie Fahrt gestellt. Die Räder rollen gleichmäßig und in gewohntem Rhythmus. Drinnen sind Menschen auf der Reise. Leipzig ist die letzte Station. Es ist Weihnachten. Die meisten fahren nach Hause, da wo die Wurzeln sind und die alten Geschichten erzählt werden aus Kindertagen. Ein paar Touristen sind dabei. Japaner auf Europareise. Des Nachts ist der Zug unterwegs.
Der Lokführer ist erfahren. Er blickt auf 40 Dienstjahre zurück. Heute ist sein letzter Arbeitstag. Weihnachten. Er schaut in die Dunkelheit. Er kennt die Strecke. Unzählige Male hat er den Zug gefahren. Er sieht die Lichter der Häuser vorbeiziehen. In den Abteilen ist es warm. Es wird geschlafen und gelesen, Kinder drücken sich die Nasen platt oder malen Pferde auf die beschlagenen Scheiben. Drei ältere Herrschaften sagen Kontra und Re. Ein junger Mann mit Glatze hat Kopfhörer auf und summt „Stille Nacht“. Eine Frau wiegt ihr Kleines in den Schlaf.
Der Zugführer merkt nichts davon. Er schaut in die Nacht. Er denkt: „ 40 Jahre und niemals habe ich die Fahrgäste gesehen. Niemals habe ich die Menschen gesehen, die ich tagaus, tagein befördere.“ „Bedauerlich“, denkt er, „sehr bedauerlich. Gerade an Weihnachten. Ich hätte sie gerne gesehen, die Menschen.“ Der Zug fährt. Des Nachts. Der Zug ist unterwegs. Letzter Halt vor Leipzig. Die Lichter der Häuser verschwinden im Dunkel. Eine junge Frau betritt den Speisewagen. Am Arm trägt sie einen Korb voller Rosen. Sie hält inne und räuspert sich. Draußen steht ein heller Stern am Himmel über den Bäumen eines dichten Waldstückes. „Diese Rosen“, sagt sie mit freundlicher Stimme, – die Reisenden erheben die Häupter und sehen auf -, „mit denen habe es eine besondere Bewandtnis.“ Ob ihr die verehrten Mitreisenden, dafür einen Moment Aufmerksamkeit schenken würden. „Werden jetzt in der Bahn auch schon Rosen verkauft, reiche das nicht in den Kneipen“, schäumt einer auch vom Bier.
Ein Kellner drängt sich durch den Gang und wiederholt lautstark ein paar Bestellungen. Die Tür zur schmalen Küche wird geöffnet. Man hört das Geklapper der Töpfe und das Geplapper der Küchenleute. „Vor Leipzig will ich hier alles klar haben“, ruft der Koch, „es ist Weihnachten!“ Ein paar Menschen versuchen, ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Das hatte sich die junge Frau gewünscht. Leicht war es nicht. Des Nachts. Nächtliche Zugfahrt. Weihnachten. Am Ende ist der Lärm verebbt. Es sind doch mehr Menschen als eben noch gedacht, die der jungen Frau mit den Rosen ihre Aufmerksamkeit schenken. Sie sei, sprach die Frau, die Tochter des Lokführers. Und ihr Vater habe just in dieser Nacht seine allerletzte Fahrt. Er habe es immer wieder so bedauert, dass er nie die Fahrgäste, nie die Menschen habe sehen können, für die er da war.
Und sie habe sich gedacht, dass heute eine gute Gelegenheit sei und ob sie allen eine Rose aushändigen dürfe, die diese wiederum bei der Ankunft in Leipzig ihrem Vater überreichen würden? Es war einen Moment still, erst sah man viele erstaunte Gesichter, dann viele nickende Köpfe. Die Rosen waren schnell vergriffen an Bundeswehrsoldaten, Manager, Monteure, Omas und Enkel, eine Skatrunde, einen Kellner. Alle warteten jetzt mit mehr Erwartung auf das Ziel. Alle spürten wie sich da eine seltsame Wärme im Körper breit machte und ein leises Lächeln. Der Zugführer sah auf die dunklen Gleise. Und zählte insgeheim die Menschen, für die er da war in all den Jahren, fast eine Ewigkeit, da war, ohne sie je zu sehen, es sind mehr als Sternlein stehen, dachte er.
Als der Zug in Leipzig einfuhr war alles anders als sonst, wenn ein Zug ankommt. Des Nachts. Der sonst so eilige Strom der Reisenden schob sich gemächlich dahin. In andere Richtung. Nicht zum Ausgang. Auf die Lok zu, vor der sich lange Schlangen bildeten. Und jeder sagte dem nach kurzer Zeit tränenüberströmten Lokführer einen kleinen Spruch ins Gesicht. Und schon bald war der Führerstand übersät mit Rosen.
Das dreiköpfige Empfangskomitee der Bahn, das am Bahnsteig auf den Jubilar gewartet hatte um einen kleinen Strauß zu überreichen starrte fassungslos auf das Geschehen. Und ein paar Japaner berichteten nach Hause von einem wunderschönen deutschen Bahnhofsritual zur Heiligen Nacht, bei dem die Lokführer nach ihrer Tour mit Blumen überschüttet werden.
Der Zugführer konnte kaum etwas sagen. Nur so etwas wie: Nun habe ich die Menschen gesehen, für die ich da bin. So lange hat es gedauert. Fast eine Ewigkeit. Bei Gott. Und Gott im Himmel erinnerte sich an jene erste Nacht, als man sich wieder ins Gesicht sehen konnte, Gott und Mensch und wieder wissen konnte, wie das ist, sich wirklich zu sehen, und die Liebe und das Leben. Und die junge Frau sprach zu denen, die noch dastanden: Gesegnete Weihnacht. Amen!  Geschichte aus der „Thüringer Allgemeinen“

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