Wahrheit – was bedeutet das?

Man kann sie verbiegen, verschweigen, relativieren. Nur abschaffen kann man sie nicht. Zum Glück! Die Wahrheit hat es heutzutage nicht gerade leicht. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts machte Oswald Spengler die trockene Bemerkung: „Was ist Wahrheit? Für die Menge das, was man ständig liest und hört.“ In diesen Tagen singt die deutsche Popband Rosenstolz zynisch: „Wahrheit ist doch nur was für Idioten“. Absolute Wahrheit gibt es nicht, und wenn es sie gäbe, würden wir es nie erfahren – das scheint heutzutage die Grundüberzeugung sehr vieler Menschen zu sein.

Wie ist das möglich, dass einerseits ein Leben ohne Wahrheit in Schule und Beruf, im Familienleben und in den Gerichtssälen überhaupt nicht denkbar ist, andererseits die Menschen gegenüber der „Wahrheit“ so misstrauisch sind? Bestimmt hängt es damit zusammen, dass die Wahrheit eine lange und nicht immer ruhmreiche Geschichte hat. In ihrem Namen wurden furchtbare Verbrechen verübt, Fehlurteile gesprochen und tragische Kriege angezettelt. Die Skepsis gegenüber der Wahrheit ist tief verwoben mit politischen und geschichtlichen Entwicklungen in Europa. Dabei hat ein Mann an der Auflösung der „Wahrheit“ mitgewirkt, wie kein anderer: Friedrich Nietzsche (1844–1900).

Im christlichen Abendland stützte sich über viele Jahrhunderte hinweg das Wahrheitsverständnis auf das jüdisch-christliche Weltbild, nach dem Wahrheit die Übereinstimmung einer sprachlichen Aussage mit der Wirklichkeit ist. Eine Aussage (z.B. „Es regnet“) ist genau dann wahr, wenn sie einem Sachverhalt entspricht (wenn es also tatsächlich regnet).
Der Pfarrerssohn Nietzsche bemerkte, dass dieses Wahrheitskonzept aufs Engste mit der Existenz von Gott verknüpft ist. Wenn allerdings gilt: „Gott ist tot“, folgerte Nietzsche, dann gibt es auch keine Wahrheit und keine Moral. So setzte er an die Stelle der Wahrheit eine kompromisslose Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber.
Nietzsches Gedanken waren sehr radikal, fanden aber dennoch begeisterte Anhänger. Ehemals christlich geprägte Begriffe wie „Freiheit“ oder „Seele“ wurden umgedeutet. Auch der traditionelle Wahrheitsbegriff wurde so von einem Wahrheitsrelativismus abgelöst.
Dieser Relativismus, den übrigens schon Sokrates 400 v.Chr. widerlegte (nachzulesen in Platons Theaitetos), ist inzwischen fest in der Gesellschaft verankert und hat weit reichende Folgen.

So gilt es heute beispielsweise als selbstverständlich, dass es keine absoluten moralische Werte gibt. Der Philosoph Harry Frankfurt konnte außerdem zeigen, dass sich in der Gesellschaft immer mehr „Bullshit“ ausbreitet. Unter Bullshit versteht Frankfurt Aussagen, die vortäuschen, um Wahrheit und Aufrichtigkeit bemüht zu sein, für deren Absender jedoch letztlich ein Wahrheitsbezug belanglos ist.
„Bullshiter“ tun so, als betrieben sie Vermittlung von Informationen, tatsächlich manipulieren sie Meinungen und Einstellungen von Menschen. So sind wir umgeben von Meinungsmüll, der eine Unterscheidung von Wahrheit und Lüge kaum mehr zulässt. Der Lügner hat noch Respekt vor der Wahrheit, denn er weiß, dass ihm die Wahrheit gefährlich werden kann. Der „Bullshiter“ interessiert sich nicht für die Wahrheit, sondern nur für die Durchsetzung seiner Interessen. So kommt der Philosoph zu dem Ergebnis, dass das Desinteresse an der Wahrheit moralisch verwerflicher ist als das Lügen (das natürlich auch verwerflich ist).

Aber nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für den Glauben und das Missionsverständnis hat die Umdeutung der Wahrheit Konsequenzen. „Was du glaubst, ist deine Sache, und was ich glaube, ist meine Sache.“ So denken heute viele Leute und weisen damit darauf hin, dass es in den Fragen des Glaubens nicht um Wahrheit und Richtigkeit, sondern um Tradition und um den persönlichen Geschmack geht.

Natürlich ist eine Glaubenswahrheit etwas anderes als objektive Richtigkeit. Sachverhalte, wie zum Beispiel die Richtigkeit von mathematischen Gleichungen, lassen sich feststellen, ohne dass ich von dem Ergebnis persönlich betroffen bin. Die Wahrheit des christlichen Glaubens ist dagegen nur erkennbar und erfahrbar, wenn ich mich willentlich auf eine persönliche Beziehung mit Gott einlasse.
Aber darf Glaube immer eine nur auf einen Augenblick bezogene persönliche Entscheidung sein, die sich einer objektiven Welt und einer gedanklichen Auseinandersetzung entzieht?

Stell dir einmal vor, du bekommst einen Brief, in dem dir ein Mensch, den du sehr magst, gesteht, dass er dich lieb hat. Zu wissen, dass dich jemand aufrichtig liebt, kann dein ganzes Leben verwandeln. Wer sich geliebt und angenommen fühlt, entwickelt eine andere Sicht für sich selbst und die für Welt. Solch eine Erkenntnis ist also weit mehr als das Wissen um einen objektiven Sachverhalt. Aber ist so eine berührende Erfahrung wirklich etwas total anderes, als ein objektiver Sachverhalt? Ist es nicht bedeutsam, dass es den Menschen, der den Brief verfasst hat, auch wirklich gibt (Richtigkeit)? Ist es nicht von elementarer Wichtigkeit, dass dieser Mensch auch denkt, was er in diesem Brief aufgeschrieben hat (Wahrhaftigkeit)?
Glaube hat also sehr wohl etwas mit Wahrheit zu tun. Nach dem Zeugnis der Bibel ist Gott selbst wahr (z.B. Jeremia 10,10; Johannes 14,6; 1. Johannes 5,6.20). Er steht verlässlich zu dem, was er tut und sagt. Wer sein Leben auf Gottes Wahrheit aufbaut, baut nicht auf Sand, sondern auf Fels und kann deshalb die Stürme des Lebens überstehen.
Wer auf Jesus Christus hört und ihm folgt, der „ist aus der Wahrheit“, (Johannes 18,37). Weil die Wahrheit „Jesus“ ist (Epheser 4,21), gilt es, ihr zu gehorchen (Galater 5,7). Wer das tut, der lebt in der Wahrheit. Das Annehmen und Bleiben in dieser Wahrheit führt in die Freiheit und zum Leben (Johannes 8,31-32).
Dem christlichen Glauben geht es um reflektierbare und prüfbare Inhalte und damit auch um die Wahrheitsfrage. Doch der Glaube an Gott ist nicht einfach richtiges Wissen über Gott. Glaube an Gott bedeutet, in einer lebendigen und willentlichen Beziehung mit ihm zu leben.

Ron Kubsch

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