Ohne Glaube fehlt ein Fundament, ein einigendes Band, das uns trotz aller Verschiedenheit zusammenhält. Ganz gleich, ob Mann oder Frau, jung oder alt, in der Stadt oder auf dem Land, gut oder weniger gut gebildet und begütert, CDU- oder GrünenWähler… Wir brauchen etwas, was jenseits aller Differenzen Gemeinsames schafft. Deshalb wende ich mich auch entschieden gegen jede Parteipolitisierung der Kirche. Jeder hat ein Menschenrecht, das Evangelium zu hören und nicht die politischen Privatmeinungen von Kirchenfunktionären. Solche Pfarrer sollten sich ehrlicherweise ins Parlament wählen statt sich zum Predigtamt ordinieren lassen. Diese primitiv-politische »Theologie der leeren Kirchenbänke« ist eine Bankrotterklärung an die Sinn stiftende Kraft des Evangeliums.
Schon die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes wussten, dass die Verfassung, also das Band, das die Nation zum Staat macht, nur haltbar ist, wenn sie über die nackten Paragraphen hinaus auch einen Wertebezug hat. Das hatte bereits der Dichter Joseph von Eichendorff erkannt, als er 1832 auf dem Hambacher Fest sagte: »Keine Verfassung garantiert sich selbst.« Unser Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht hervorbringen, die er aber durch den staatlichen Schutz der Kirchen gewährleisten könne, so der Verfassungsrichter ErnstWolfgang Böckenförde. Doch was nützt Gott auf dem Papier der Verfassung, wenn er nicht die Verfassung der Menschen prägt?! Beides gehört zusammen.Selbst der Philosoph des Existenzialismus, Martin Heidegger, erkannte am Ende seines Lebens: »Nur Gott kann uns noch retten.« Ausgerechnet er fasst in Worte, was ein Leben ohne Glauben bedeutet: »Wenn Gott als der übersinnliche Grund und das Ziel alles Wirklichen tot ist…, dann bleibt nichts mehr, woran der Mensch sich halten und wonach er sich richten kann. Der Nihilismus, der unheimlichste aller Gäste, steht vor der Tür.«
Der Theaterregisseur Nicolas Stemann (Jahrgang 1968), jetzt am Wiener Burgtheater, eines der meistgefeierten Nachwuchstalente, wurde für seine Inszenierung von Meists »Käthchen von Heilbronn« im Deutschen Theater Berlin mit Ruhm überschüttet. »Mit diesem Stück wollte ich bestimmte Fragen stellen, die heutzutage als uncool gelten: die Frage nach Glauben, Vertrauen, Liebe. Dabei wird doch längst immer deutlicher, dass ein Leben ohne Glauben sehr defizitär ist«, sagt er der »Welt« (7. Mai 2004, unter der Überschrift: »Kein Leben ohne Gott – Star des Berliner Theatertreffens setzt auf die alten menschlichen Werte«). Mit Stemann hätten wir einen Regisseur, schreiben Kritiker, »der bestimmte menschliche Werte wieder kenntlich und wichtig machen will, indem er das Gefühl für ihren Verlust beschwört. Nämlich Glaube, Liebe, Hoffnung.«Werte mehr haben, dann wird auch der für politische Entscheidungen notwendige Konsens unmöglich« (Roman Herzog). Der Bremer Geschichtsprofessor Paul Nolte (Jahrgang 1963) sieht Leidenschaft und Anstrengungsbereitschaft zum Wohle unserer Gesellschaft in patriotischer Selbstachtung begründet: »Ohne einen gemeinschaftlichen Bezug und Wertehintergrund sind Reformanstrengungen nicht umzusetzen. Ja, ohne Glaube sind wir arm dran. Der leider so früh verstorbene Wirtschaftsjournalist Johannes Gross meinte: »Wenn ich glaube, habe ich nichts zu verlieren; wenn ich nicht glaube, habe ich nichts zu erhoffen.« Und ohne Hoffnung kann keiner leben. Hoffnung gehört zum Leben wie das Atmen. Nimmt man dem Menschen den Sauerstoff, so tritt der Tod durch Ersticken ein. Nimmt man ihm die Hoffnung, so kommt die Atemnot, die Verzweiflung heißt. Und in wie viele verzweifelte Gesichter muss man heute sehen! Menschen ohne Zukunft sind wie wandelnde Leichen in der Gegenwart. »Ein Mensch, der keine Hoffnung hat und sich dessen bewusst ist, hat keine Zukunft mehr« (Albert Camus). Das ist ja kein Problem unserer individuellen Seelenlage. Das hat fatale Folgen für unsere Gesellschaft. Hoffnungslosigkeit erzeugt Angst. Und Angst lähmt die Initiative. »Der Glaube ist die größte Leidenschaft im Menschen« (Kierkegaard). Wenn es nichts mehr zu glauben und zu hoffen gibt, lohnt auch keine Anstrengung. Bleibt nur die Flucht in die Resignation oder ins eigene Ich, in einen tödlichen Individualismus zum Tanz ums goldene Selbst. Diese radikale Ichbezogenheit führt laut »Spiegel« zu »Atomisierung, Entsolidarisierung, Werteverfall, Egoismus, Anspruchsdenken«. Die Ego-Ratgeber füllen die Regale der Buchhandlungen.
Ohne Hoffnung leben heißt, ohne Ziel leben. Zielloses Leben aber ist ein Leben ohne Orientierung. Ein Mensch ohne Orientierung ist haltlos. Nur lebendige Hoffnung gestaltet die Gegenwart. Solche Hoffnung motiviert. Sie setzt in Bewegung. Sie ist Motor und Impuls, mit dem langen Atem der Zuversicht auch dort an der Arbeit zu bleiben, wo alles sinnlos erscheint.Das »Düsseldorfer Kommödchen« hat also Recht, wenn es eine Gesellschaft ohne Glaube und ohne Hoffnung als labil bezeichnet. Vor allem, wenn ihr auch noch die Liebe fehlt. Wobei mit Liebe mehr gemeint ist, als was wir inzwischen daraus gemacht haben. Liebe hat mit Vertrauen, ja mit Urvertrauen zu tun. Dass man zueinander steht, füreinander sorgt, beieinander bleibt in schweren Situationen und miteinander das Leben teilt. Das ist die Liebe, die laut Bibel nicht fordert, sondern fördert. Die sich hingibt und damit wächst. Die den anderen nimmt, wie er ist, mag er sein, wie er will. Doch das alles widerspricht dem fehlgeleiteten Leistungsdenken unserer egomanen Gesellschaft.
Ohne Grundvertrauen gibt es kein Selbstvertrauen. Solche Menschen sind weder Ieistungsrähig noch leistungsbereit oder risikofreudig, geschweige denn leidensfähig. Spätestens hier wird deutlich, dass Werte wie Glaube, Hoffnung und Liebe nicht nur individuelle, sondern gesellschaftliche Konsequenzen haben.
Sinnfrage statt Spaßfrage Und doch sind es immer mehr Menschen, die ihr Leben nicht mehr nach Kalorientabellen und Börsenkursen planen wollen. Zum globalen Pessimismus (Deutschland als Weltmeister im Wehklagen) kommt jetzt dramatisch die persönliche, existenzielle Bedrohung. Jeder hat jemand im engsten Bekanntenkreis, der arbeitslos ist, vom Topjournalisten bis zum Banker. Die Ahnung, dass es jeden treffen kann, verunsichert die gut behütete und beneidete Nach-68er-Generation, die von unbegrenztem und bombensicherem Wachstum träumte. Drohend stellen sich die Fragen nach Rente, sozialer Sicherung und dem Gesundheitssystem.Wir erleben nun nach dem Gefühl ewiger Sicherheit die Rückkehr derAngst. Die Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt, sinkende Realeinkommen und düstere Rentenaussichten sorgen dafür, »dass die Gewöhnung an das unbeschwerte Leben zwischen Konsumgenuss und Egotrip an ihre finanzielle Grenze stößt«, resümiert das Hamburger BAT-Institut das Ergebnis einer RepräsentativumfragAom August 2003. Die Spaßgesellschaft habe sich überlebt. Leben ist eben mehr als Wellness. Der Hunger nach immer neuen Spaßrationen im Fernsehen nähert sich der Sättigungsgrenze.
Wenn die Spaßgesellschaft wirklich der >,Endzustand der Säkularisierung« ist und der heitere Genuss so manche Leerstelle füllt, wo in der Persönlichkeit früher die Oberzeugungen saßen – wenn das stimmt, dann beginnt mit der Sinnsuche das Ende dieses Spaßes. Die Spaßgesellschaft ist jedoch auch das Ergebnis einer ökonomischen Entwicklung, einer explosiv steigenden Unterhaltungsindustrie, die sich nicht ohne weiteres und vor allem nicht freiwillig zurückdrehen lassen wird und will. Spaß machen ist ein ernstes Geschäft. Und Spaß macht sich vor allem bezahlt. »Ohne Spaß würde die Weltwirtschaft zusammenbrechen, schon deshalb darf er nicht aufhören«, warnt der Berliner »Tagesspiegel«. Dennoch scheint mir der Konkurrenzkampf zwischen Gottesdienst und Erlebnisbad, zwischen Sinnstiftern und Spaßmachern wieder völlig offen. Den sich vergnügenden Massen ist das Lachen vergangen, weil man sich ja bekanntlich kaputtlacht … Die »Generation Golf« (so nennt Florian Illies seine in den 1970er Jahren geborenen Altersgenossen), die geschenkt bekam, wofür ihre Eltern noch hart arbeiten mussten, ist mit dem 11. September 2001 jäh wachgerüttelt. Aufgewacht nach wohligwattiger Schläfrigkeit, ausgeruht auf dem weichen Zivilisationspolster. Nach der Leichtigkeit des Seins (–weder rechts noch links, aber lustig) kommt die berufliche Bedrängnis. Die Zukunftsaussichten sind düster, die Vergnügungen der Spaßgesellschaft schmecken schal, an den Hebeln der Macht sitzen immer noch diejenigen, die in grauer Vorzeit den Marsch durch die Institutionen angetreten hatten. Für die »Generation Golf« sind die Zeiten alles andere als rosig. »Jung, erfolgreich, entlassen«, titelte der »Spiegel« (August 2002). Aus und vorbei! »Die Sinnfrage ist wieder wichtiger als die Spaßfrage«, sagt Horst V. Opaschowski, Deutschlands dienstältester Trendforscher (BAT-Forschungsinstitut Hamburg). »Auf das Vakuum einer oberflächenbetonten Weltsicht folgt die Sehnsucht nach Werten. Nach dem Zeitalter der Ideologien folgt die Rückkehr zur Religion« (Illies). »Religion als Lebensgefühl ist wieder gefragt – als Gegengewicht für den Verfall verbindlicher Regeln und moralischer Normen. Normlosigkeit ist auch ein Ausdruck von Gottlosigkeit«, schreibt der Soziologe Opaschowski.
Holt Gott zurück! Als beim Prager »Forum 2000« führende Persönlichkeiten aus aller Welt über Zukunftsfragen diskutierten, meinte Tschechiens damaliger Staatspräsident Väclav Havel: »Zunehmende Gottlosigkeit ist mitverantwortlich für die derzeitigen globalen Krisen.« Besonders dramatisch sei der daraus resultierende »weltweite Mangel an Verantwortung«. Die Moral wird privatisiert, gesellschaftliche Maßstäbe und allgemein verbindliche Sinnorientierungen gehen verloren. Als Resultat bleibt der Verlust sozialer Lebensqualität. Halten wir uns den Spiegel vor: Kneipen und Kinos sind voller als Kirchen. Nächstenliebe leidet an Magersucht. Minister schwören nicht zu Gott. Das Goldene Kalb ist populärer als die Zehn Gebote. Nicht Religion und Glaube, sondern Wissenschaft und Fortschritt, Konsum und Kommerz sind die stärksten Schubkräfte der Geschichte. Doch schon Goethe analysierte messerscharf »Alle Epochen, in denen der Unglaube einen kümmerlichen Sieg behauptet, verschwinden vor der Nachwelt, weil sich niemand gern mit der Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälen mag.« Deshalb der Appell von Alexander Solschenizyn, der im Juni 1994 zur Titelschlagzeile der »Welt« wurde: »Holt Gott zurück in die Politik!« Der russische Dichter und Denker, Dissident und Nobelpreisträger hat die düstere Prophezeihung seines Autorenkollegen Dostojewski am eigenen Leib im eigenen Land erlebt: »Ein Volk ohne Bindung an Gott geht kaputt. Wenn Gott nicht existierte, wäre alles erlaubt.« Wir bezahlen bitter, was der Mathematiker-Philosoph Blaise Pascal schon im 17. Jahrhundert beschrieb: »Die Mitte verlassen heißt die Menschlichkeit verlassen.« Humanität ohne Divinität führt zur Bestialität. Die Abschaffung Gottes flihrt nicht ins Vakuum. »Die verlassenen Altäre werden von Dämonen bewohnt« (Ernst Jünger). Der Thron ist leer, aber alle wollen drauf.
In der schrecklichen Nazizeit hat sich der arische Wundermensch zu seinem eigenen Gott gemacht. Das Ende kennen wir. Im Mai 1936 schrieb die vorläufige Leitung der evangelischen Kirche an Hisler: »Unser Volk droht die ihm von Gott gesetzten Schranken zu zerbrechen: Es will. sich selbst zum Maß aller Dinge machen. Das ist menschliche Überheblichkeit, die sich gegen Gott empört.« Das darf sich nie wiederholen!Der katholische Religionsphilosoph Romano Guardini fragt uns im Blick auf die Wissenschaftsethik ironisch-besorgt: »Wird der Mensch der Technik nachwachsen?« Die Erkenntnis von Novalis hat sich heute ins Gegenteil verkehrt: »Ein Schritt in der Technik erfordert drei Schritte in der Ethik.« Wie rück-schrittlich wir da heute sind, zeigt die Debatte um Lebensschutz und Bioethik. Als gäbe es weder mitmenschliche noch moralische Maßstäbe, werden die Fragen der reinen Zweckmäßigkeit geopfert. Dabei liefert gerade hier die Frage nach Gott und dem Glauben den eigentlichen Fort-Schritt der Humanität. Ein Beweis für seine gesellschaftliche Relevanz und dafür, welch hohen Preis wir für dessen Verlust bezahlen.Die wichtigste Unterscheidung, die der Glaube macht, ist nämlich die zwischen Gott und Mensch. Wenn der Glaube von Gott spricht, meint er den Schöpfer. Und damit weist er dem Menschen seinen Platz zu: als Geschöpf. Das hat fundamentale Wirkung für alle gesellschaftlichen Bezüge. Wenn der Glaube den Menschen in ein Verhältnis setzt, dann verhindert er, dass der Mensch Maß aller Dinge ist. Dass dies alles andere als theoretisches Philosophieren ist und es dabei um alles oder nichts geht, zeigt die aktuelle Diskussion um die Neudefinition des Begriffs Menschenwürde mit dem fatalen Konzept einer »abgestuften Menschenwürde«. Dabei wird der vom Grundgesetz geschützte Wert immer häufiger mit Freiheit, Handlungsfähigkeit, Bewusstsein oder Jugendlichkeit in Verbindung gebracht. Sind diese Kriterien nicht mehr erfüllt, wird schnell statt von einem menschenwürdigen Leben von einem menschenwürdigen Sterben gesprochen.
Wohin das führt, erleben wir in Holland hautnah: Während wir in Deutschland noch für Patientenverfügungen werben, geben die Niederländer notariell »Lebenswunsch-Erklärungen« ab. Bereits drei Jahre nach dem bejubelten liberalen Sterbehilfe-Gesetz haben sich die schlimmsten Befürchtungen der Konservativen dramatisch bewahrheitet: Immer mehr alte Menschen sterben durch die Hand des Arztes nicht auf eigenen, sondern ihrer Verwandten (und Erben!) Wunsch. Die Meldepflichten werden einfach ignoriert und die Kriterien der Euthanasie großzügig ausgelegt. In diesem Klima kann es nicht verwundern, wenn die ohnehin unbestimmten Begriffe »unerträgliches und aussichtsloses Leiden« inzwischen auch dazu dienen, die Tötung eines Alzheimerpatienten im Frühstadium (!) der Krankheit zu rechtfertigen. So makaber es klingt: In Holland ist man seines Lebens nicht mehr sicher. Und das gilt für jede Gesetzgebung, die den Menschen zum Maß aller Dinge macht. Holt Gott zurück in die Politik – das heißt dann: Holt das Maß zurück. Den Maßstab, an dem sich alles messen lassen muss. Denn wenn Gott weichen muss und der Mensch an die erste Stelle tritt, sind Extremismus und Fanatismus die Folge. Der atheistische Fundamentalismus ist die größte Bedrohung unserer Gesellschaft. Unter dem Minuszeichen der Gottlosigkeit gerät alles auf die schiefe Bahn. Wo immer in der Welt einer nicht mehr weiß, dass er höchstens der Zweite ist, da ist ‘bald der Teufel los. Der Philosoph Max Scheler nennt es »metaphysischen Leichtsinn« zu meinen, der Mensch könne alles selbst und brauche Gott nicht. Christus oder Chaos – so lautete die provozierende, aber messerscharfe These hellsichtiger Christen nach dem Zweiten Weltkrieg und der barbarischen Nazidiktatur. Zum Beispiel Wilhelm Busch mit seinem noch heute aktuellen Bestseller »Jesus
unser Schicksal«. Man kann nämlich den, der zur Rechten Gottes sitzt, nicht einfach links liegen lassen. Und wer vor Gott knien kann, der kann vor Menschen gerade stehen. Es gibt keine Ethik ohne Religion. Ich kann nach keiner Orientierungsmarke segeln, die ich mir selbst an den Bug meines Schiffes genagelt habe. Letzte Ausrichtung, der es kompassgenau zu folgen gilt, kann nur außerhalb von mir sein. Die tapferen Christen der Bekennenden Kirche während des Dritten Reiches hatten das Motto: »Teneo quia teneor« – ich halte stand, weil ich gehalten werde.
Golgatha ist keine Zahnpasta
Doch Pisa-Deutschland hat das alles verlernt. Der Scherbenhaufen der 68er-Rückschritts-Rebellen verdeckt die Sicht auf den lebensfördernden Fortschritt. Mit der Spaßgesellschaft gehen auch immer Bildungsnotstand und Kulturlosigkeit einher. Hieß es früher einmal: »Wissen ist Macht«, so denken wir heute: »Weiß nichts, macht nichts!« Paradebeispiel sind die Quizshows im Fernsehen, die Ratesendungen von Günther Jauch oder Jörg Pilawa. Da schlägt einem die blanke Bildungskatastrophe unserer Oberflächengesellschaft entgegen, die die Tiefe meidet und ihre Wurzeln länget verloren hat. »Ich habe Probleme mit Leuten, die Franz Kafka für den Erfinder von Fix und Foxi halten«, sagt Jauch. Ganz zu schweigen von Fragen zur Bibel, der Grundurkunde unserer Kultur, der Wertegrundlage Europas. Da werden vor lauter Nichtwissen Tausende Euro Gewinnsumme verspielt. Der Vater von Kain und Abel? Null Ahnung! Woher kommt der »Sündenbock«? Noch nie gehört! Und als zehn Kandidaten vorgegebene Zeilen des Vaterunsers in die richtige Reihenfolge bringen sollten, konnte das keiner, wirklich keiner. Was soll man mit einer Generation anfangen, die Golgatha tatsächlich für eine Zahnpastasorte hält …
Alte Werte, neu entdeckt Doch in dem Augenblick, wo Kinder da sind, kommen die echten Lebensfragen knallhart auf den Tisch. Übrigens: Auch ein Grund, weshalb unsere oberflächliche Spaßgesellschaft am besten in der Single-Kultur gedeiht, in der es dann zum Schluss nur noch um die bange Frage nach dem Sterben geht, wenn das Leben bereits gelaufen ist… Im »Spiegel«-Titel zum Thema »Die neuen Werte« (Juli 2003) heißt es: »In vertrauter Runde gestehen Eltern sogar, auch wieder das Abendgebet eingeführt zu haben, sich dabei aber ähnlich hilflos zu fühlen wie beim Absingen der Volkslieder -sie selber sind nämlich weder mit dem einen noch mit dem anderen aufgewachsen.« Genauso hilflos erlebe ich Kollegen, die ihren Kindern auf Fragen nach Gott und Gebet, nach Himmel und Heiland antworten sollen. Jahrzehnte haben wir es uns gefallen lassen, dass über Familie nur negativ gesprochen, gelästert und gespottet wurde. Jetzt bezahlen wir die Quittung. Denn die Familie ist der erste und wichtigste Ort zur Vermittlung von Werten. Hier werden die Fundamente gelegt, auf die der Mensch sein ganzes Leben aufbauen kann – oder eben nicht. Kinder sich selbst oder Fremden zu überlassen wird nur vom schlechten Gewissen als Fortschritt gepriesen.
Beliebte Zielscheibe des ideologischen Gespötts sind und waren Mütter, die sich als »Nur-Hausfrauen« zu outen wagen. Frauen, die in der unvorstellbaren Aufgabe doch tatsächlich Erfüllung zu finden scheinen, sich um ihre Kinder und die Familie zu kümmern. Sie gelten als latent asozial. Für diese bemitleidenswerten Zeitgenossinnen hatte man(n) sogleich den stereotypen Schlagwort-Dreiklang Kinder, Küche, Kirche parat. Stereotypen sind jedoch nichts anderes als die Stützräder für kleine Denker, die Großes formulieren wollen. Sie sind der »Terror der Mittelmäßigen« (Oscar Wilde). Hauptverantwortlich für die fundamentale Sinnkrise, für den verheerenden Seelenzustand der jungen Generation sind nicht die Schulen und die Medien, das ist und bleibt die Familie. »Heute sind viele junge Menschen auf der Straße, weil sie die Liebe und die Freude in den Familien entbehren. Sie hungern nach Liebe, sind aber sich selbst überlassen, weil ihre Eltern zu beschäftigt sind« (Mutter Teresa). Familie ist nicht nur der Ort für Vorschriften, sondern für Vorbilder. Hier werden Werte erlebt – oder eben nicht. Etwas altertümlich, aber höchst aktuell werden die Aufgaben der Familie im »Hannöverschen Magazin« von 1786 so beschrieben: »Gegenseitige Rücksichtnahme, Anstand, Interesse füreinander, Duldsamkeit, Selbstbeherrschung, kurz: die Aufgabe, sich gemeinschaftlich und wechselseitig beständig zu veredeln und zu vervollkommnen.« Veredeln heißt im Gärtnerdeutsch kultivieren. Kultur wächst also aus der Familie heraus – oder eben nicht. »Bildung ist der Boden, den jeder Einzelne zu erwerben und immer wieder neu zu bestellen (kultivieren!) hat« (Karl Jaspers). Kein Wunder, dass aus der gegenwärtigen Unkultur die Sehnsucht nach Familie wächst. Trendforscher sehen bei jungen Leuten eine Trendwende. Die Überzeugung, so das BAT-Institut, dass man »auch ohne Ehe, Kinder und Familie glücklich sein kann, findet immer weniger Zustimmung«. Der Trend zur Individualisierung habe den Zenit überschritten. Selbst Illustrierte bejubeln die »alten Werte, neu entdeckt«: Familie statt Singleleben, Sparen statt Shopping, Freundschaft statt Egoismus … Wir merken, dass doch letztlich die Familie die wichtigste Institution ist, um Werte zu vermitteln. Mit Menschen, die wir lieben, wertvoll umzugehen ist das beste Rezept gegen den Werteverfall. »Erziehung ist Vorbild und Liebe« (1. H. Pestalozzi).
Vorbild statt Vorschrift Der erhobene Zeigefinger über die böse Spaßkultur nützt nichts. Vorschriften gegen die hemmungslose Lust am Banalen noch weniger. Letztlich zählt nur eines, was wir der nachfolgenden Generation geben können: Vorbild. Und da wundern wir uns noch, dass junge Leute zum Beispiel Rücksicht und Verantwortung »uncool« finden? In einer Umfrage nannten die meisten 14- bis 16-Jährigen Rücksichtnahme als größten Stress. Wo werden denn in unserer Gesellschaft Rücksicht und Verantwortung vorgelebt? Alle wollen doch »cool« sein: Gestylte Politiker in TV-Shows, gierige Abzock-Promis in vergoldetem Ruhestand, krankhafter Jugendwahn in der Werbung, seichte Unterhaltung in den Medien ganz oben. »Je banaler, desto bessere Sendeplätze, desto mehr Quote« (Roman Herzog).
Ende des 20. Jahrhunderts hat die Spaßgesellschaft Einzug in die Medien gehalten und beeinflusst seitdem die Selbst- und Weltwahrnehmung. Markenklamotten, Modedrogen, Markt der tausend Unverbindlichkeiten von »Ballermann 6« bis »Big Brother«, TV Formate, in denen sinnfreies Lachen Trumpf ist und Ironie zum Mittel der Verständigung wird. Vorbild Bildschirm. » Fun ist ein Stahlbad. Die Vergnügungsindustrie verordnet es unablässig«, wie Horkheimer und Adorno schon vor Jahrzehnten feststellten. »Modedrogen sind darin ebenso eingeschlossen wie die Love- und Street-Paraden« (»Neue Zürcher Zeitung«). Wenn über die Flucht in die Sucht als letzter Rettungsanker unserer spaßgeschädigten Jugend geklagt wird, zeigen die Finger auf uns Erwachsene: Wir alle leben die Spaßgesellschaft vor. Wir tragen doch die Verantwortung für unsere Kinder. Von Vorbild und Liebe spricht Pestalozzi, der Urvater der Pädagogik. Mir fällt ein Interview mit Julian Lennon im »Daily Telegraph« ein. Da lässt er kein gutes Haar an seinem Vater, dem Ex-Beatle John Lennon. Er wirk ihm Scheinheiligkeit vor, weil er sich um seine Familie kaum gekümmert habe. »Papa konnte laut vom Weltfrieden und der Liebe auf Erden singen, aber seinem Sohn konnte er dieses Gefühl nie vermitteln«, so der inzwischen 35-Jährige. Ich erinnere an den ermordeten Bankchef Alfred Herrhausen und sein Lebensmotto: »Wir müssen das, was wir denken, auch sagen. Wir müssen das, was wir sagen, auch tun. Wir müssen das, was wir tun, auch sein.« Peter Hahne