„Eine ganz kleine Bewegung, ein Ächzen ging durch das ganze Schiff, aber kein Stoß. Noch nicht mal der Whiskey im Glas kippte. Keine Panik – nix. Kein Geschrei – nix. Vollkommene Ruhe.“
Alfred Nourney aus Bad Honnef war einer der wenigen deutschsprachigen Überlebenden des Zusammenstoßes der „Titanic“ mit einem Eisberg. Bis zu seinem Tod in den 70er-Jahren erinnerte er sich lebhaft an zwei Geräusche aus jener Nacht vom 14. auf den 15. April 1912:
„Als die Titanic nun wirklich sank, das dauerte ne ganze Weile. Das donnerte – rrrrummms – als sie sich auf den Kopf setzte. Und weg war sie. Und dann kam die schlimmste Zeit, es sind ja, na etwa tausend Leute mit dem Sog runter, dann trieben die in dem eiskalten Wasser und schrien um Hilfe. Und das war wie ein – huuuuuuu – wie ein Sirenenton, dieses Schreien. Und dieser Todesschrei, dieser Notschrei von tausend Menschen, kreischend, das war ein Akkord wie ein Sirenenton, grauenhaft, und dieses Schreien hat über ne Stunde gedauert.“
In den 100 Jahren seit dem Schiffsunglück haben viele Berichte und Gedichte, Gemälde und Gesänge, vor allem aber der Oscar-gekrönte Kinofilm mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio den Untergang der „Titanic“ zum Mythos gemacht. Wie kam es dazu ? Der Theologe und Psychologe Richard Riess hat folgende Antwort :
„Der Untergang der ‚Titanic‘ ist ja ein Beispiel für das Scheitern des Menschen schlechthin, insofern er an Gott vorbei, als gottloser Verehrer der modernen Technik seine Welt aufbaut. Insofern wirken Geschichten nach wie zum Beispiel die Paradies-Erzählung und vor allem auch der Turmbau zu Babel. Als Beispiel dafür, dass der Mensch an seinem Hochmut zugrunde gehen wird.“
Die „Titanic“ – ein schwimmender „Turm zu Babel“, das biblische Symbol für Anmaßung und Vermessenheit?
Der 14. April 1912 markiert einen ersten tiefen Einschnitt in die aufgeklärt-technikbegeisterte Fortschrittsgläubigkeit jener Zeit. Aber auch die Rückkehr eines geradezu mittelalterlichen Gottesbildes: Gott schlägt drein, wenn der Mensch zu viel kann, sich zu viel herausnimmt und wie Ikarus zu hoch fliegt. Die Titanen – das waren in der griechischen Mythologie die Kinder des Uranos, die sich sträflich gegen die Götter aufgelehnt hatten. „Titanic“-Kapitän John Edvard Smith – ein moderner Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl?
„Ich halte nicht viel von diesen Spekulationen, die immer wieder aufblühen, wenn es um Krisen und Katastrophen geht. Da kocht jeder so sein Süppchen. Ich denke aber, dass dieses Motiv in vielen Predigten eine Rolle gespielt hat.“
Jux und Dollerei auf einem leckgeschlagenen Schiff -für Moralisten und Reformer wie Oswald Spengler und sein Buch „Der Untergang des Abendlandes“ von 1918 war das ein mahnendes Symbol. Als Warnung vor sündiger Leichtlebigkeit erzählten Kanzelprediger in den USA, das Bordorchester der „Titanic“ habe mit Ragtime-Melodien zum Tanz aufgespielt. Und dann – so der Titel eines berühmten Romans von Eric Fosnes Hansen – einen „Choral am Ende der Reise“. Das in der englischsprachigen Welt beliebte Beerdigungslied „Näher mein Gott zu Dir“.
Augenzeuge Alfred Nourney bestreitet das :
„Es war sonntagabends ! Und sonntagabends ist auf englischen Schiffen keine rauschende Ballnacht. Die Gesellschaftsräume waren abgeschlossen, überhaupt nix, es war wohl in der Bar und im Ritz Carlton Restaurant Betrieb, aber in den Gesellschaftsräumen wie gesagt nicht.“
Woher dann die erbauliche Anekdote für fromme Gemüter ? Titus Müller, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller aus München, hat jahrelang die Quellen recherchiert:
„Also Sonntagsruhe – das kann auf gar keinen Fall sein, weil alle Überlebenden sagen, dass die Band gespielt hat. Sogar die Mehrheit behauptet, es sei „Näher mein Gott zu Dir“ gewesen. Es gibt auch Indizien, die dafür sprechen. zum Beispiel der Chef dieser Musikergruppe, Wallace Hartley, wurde Jahre früher mal gefragt, was er tun würde, wenn ein Schiff untergeht, auf dem er spielt und er soll gesagt haben : Ich würde „Näher mein Gott zu Dir“ spielen. Das war übrigens auch sein Lieblingslied.“
Während der bayerische Benediktinerpater Josef Peruschitz und sein britischer Kollege Pater Byles den Passagieren die Beichte abnahmen und für sie beteten, sei dieses Lied angestimmt worden., behauptet Autor Moody Adams in seinem Buch „Der letzte Held der Titanic“. Gesungen hätte es John Harper, ein 39-jähriger Baptistenpastor aus London. Laut Passagierliste der einzige protestantische Geistliche auf der „Titanic“. Eine Anekdote, die der Münchner Romanautor Titus Müller aus amerikanischen Predigten und aus Moody Adams Helden-Biografie hat, ist diese:
„John Harper habe seine Rettungsweste verschenkt und Leute gefragt, ob sie gläubig seien. Und wenn nicht, hat er ihnen gesagt : Glaubt an Jesus Christus und Ihr werdet gerettet ! Selbst im eiskalten Wasser, nachdem er ins Wasser gesprungen war, soll er das noch gesagt haben. Und jetzt wollte dieser John Harper eben gern die Leute davon überzeugen, dass sie mit Gott reden und sagen : Ich möchte bei Dir sein, Gott.“
Schriftsteller Titus Müller hat in seinem Roman „Tanz unter Sternen“ aus diesem historischen John Harper die fiktive Figur eines Berliner Pfarrers gemacht, der einem britischen Spion an Bord die Aufrüstungspläne des deutschen Kaiserreichs verrät. Der Untergang der „Titanic“ fand ja am Vorabend einer noch viel größeren Katastrophe statt, des Ersten Weltkriegs mit rund 17 Millionen Toten. Dessen Ende im Versailler Vertrag legte bereits den Grundstein für den Zweiten Weltkrieg ; es folgten Holocaust und Hiroshima.
Für Professor Richard Riess wurde im 20.Jahrhundert die jüdische Apokalyptik der biblischen Propheten Hesekiel und Daniel und die christliche Apokalyptik der Johannes-Offenbarung verlängert und überhöht von einer nicht mehr religiösen, sondern säkularen Apokalyptik. Begründet von der Technik, verkündet von den Medien, wurden so aus theologischen Denkmustern kollektiv symbolische Bilder :
„Die ökologische Krise, die nukleare Katastrophe, die Ausbreitung von neuen Krankheiten, die gewaltige Bevölkerungsexplosion auf sieben oder noch mehr Milliarden Menschen, dann auch der Kampf um die Ressourcen, oder das geheime Spiel der Banken, und schließlich der Terror – das Bild, die Metapher ‚Wir in einem Boot‘ drückt das ja auch aus, dass das Schiff ein archaisches Symbol ist für das Überschreiten der Grenzen.“
„Dass man auch über Gott nachdenkt, wenn man an den Untergang der Titanic denkt, kann ich sehr gut nachvollziehen, weil im Gegensatz zum Hollywoodfilm, wo ja der Kapitän schuld ist, es in Wirklichkeit schwer ist zu sagen: Wer soll dran schuld gewesen sein ?“
Die juristische Schuld sah ein internationaler Untersuchungsausschuss bei der Reederei „White Star Line“ und dem „Titanic“-Kapitän John Edvard Smith. Eine moralische Schuld, im halbleeren Rettungsboot von den schreienden Ertrinkenden weggerudert zu sein, empfand der Überlebende Alfred Nourney nicht:
„Hinfahren – das wäre Selbstmord gewesen, denn in dem Moment, wo wir mit dem Boot da hingekommen wären, wären eins, zwei, fünf, zwanzig, fünfzig, hundert Hände gewesen und hätten uns selbst mit runtergezogen. Im Gegenteil, wir sind noch weiter weggerudert.“ deutschlandfunkkultur.de/