Der Anti-Koran-Reflex

Jede Sekunde verteilt der evangelische Gideonbund weltweit zwei Bibeln. Würde man die Bände stapeln, käme jede Stunde ein Turm in der Höhe des Big Ben heraus. In Deutschland haben die Missionare bisher 20 Millionen Exemplare verteilt, unter anderem an Schüler und Häftlinge. Auf der Homepage des Gideonbundes heißt es: „Unser Ziel: Menschen mit Jesus Christus bekannt zu machen.“

Niemand, der etwas für Religion, Weltliteratur oder kulturelles Allgemeinwissen übrig hat, kann an dieser Praxis etwas auszusetzen haben. Die Bibel ist das wichtigste und einflussreichste Buch der Menschheitsgeschichte, und je mehr Menschen ihre Nase hineinstecken, desto besser. Und selbst wenn die Bibel das unwichtigste und einflussloseste Buch wäre – in Deutschland könnte sie trotzdem jeder, der Geld genug dazu hat, massenweise drucken und verteilen. Zumindest, solange der Inhalt im Rahmen der Verfassung bleibt. Das garantiert die Meinungsfreiheit.

Seit einigen Tagen wird nun über ein ähnliches Missionsprojekt diskutiert. Muslime wollen in Deutschland 25 Millionen Korane verschenken – eine Ausgabe für jeden deutschen Haushalt. Über Ostern drückten die Aktivisten Passanten in vielen deutschen Städten Korane in die Hand, erste Exemplare sollen auch bereits in Schulen und Gefängnissen verteilt worden sein. Während die Gideons seit Jahren ungestört ihre Arbeit machen und mit Politikern allenfalls dann in Kontakt kommen, wenn ein Bundespräsident sich mal wieder symbolisch eine Gideon-Bibel überreichen lässt, werden die Muslime nun immer heftiger attackiert. Mehrere Verfassungsschutzämter warnen vor der Kampagne, die Union will „diese aggressive Aktion“ stoppen. In den Medien ist von einer „Propagandaoffensive“ des Islam die Rede. Woher kommt diese Empörung? Sind Bibelprojekt und Koranprojekt nicht das gleiche?

Ja und nein. Zunächst muss man ernst nehmen, was die Sicherheitsbehörden zur muslimischen Kampagne mit dem Namen „Lies!“ sagen. Die Initiatoren sind Salafisten, fundamentalistische Anhänger des Islam, die eine wörtliche Auslegung des Korans vertreten und die Scharia befürworten. Es besteht der berechtigte Verdacht, dass die Salafisten mit den Koranexemplaren Werbung für ihre extremistische Sache machen wollen. Die Botschaft, in diesem Fall der Koran, ist nicht vom Absender zu trennen, mehr noch: Die Absender geben ja Anweisungen, in welchem Sinne man den Koran zu lesen habe – und manipulieren so die Botschaft. Die Aktion „Lies!“ muss deshalb misstrauisch beobachtet werden, und die Initiatoren werden sich Kritik gefallen lassen müssen, die ja ebenfalls von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Im Moment spricht allerdings wenig für die Kritikfähigkeit der Salafisten: Einige Journalisten, die über die Aktion recherchierten, haben bereits Drohungen bekommen und sind auf Personenschutz angewiesen.

Doch der allgemeine Anti-Koran-Reflex lässt sich leider nicht allein mit nüchternen Gefahrenabwägungen erklären. Die Menschen empören sich ja nicht nur über die Salafisten, sondern auch über die Idee der Missionierung an sich. Mission klingt feindlich, sie ist längst zum Schimpfwort geworden – vor allem in Bezug auf den Islam. Aus Kommentaren der Internetforen spricht die alte Urangst vor Einkreisung und Überwältigung durch „die anderen“. Ist der Islam nicht schon genug auf dem Vormarsch? Dass die wenigsten jemals einen Koran aufgeschlagen haben, verschärft das Problem: Viele haben Angst vor dem Islam, weil sie ihn als das ganz Fremde, ganz Unverständliche empfinden. Gleichzeitig machen sich gerade viele Christen Sorgen darüber, dass der Koran starke Anziehungskraft auf junge Menschen ausübt, während die Bibel kaum noch jemanden zu interessieren scheint. So entsteht eine unheilvolle Mischung aus Konkurrenzdenken und Unsicherheit gegenüber dem Unbekannten.

Die Aktion „Lies!“ verdeutlicht beides: den gefährlichen Absolutheitsanspruch radikaler Islamisten – und das diffuse Bedürfnis nach Islameindämmung. Die Tragik besteht darin, dass ausgerechnet ein Koranleseprojekt bei beiden Problemen weiterhelfen würde. Wären die Absichten nicht auf Radikalisierung gerichtet – was wäre gegen einen kostenlosen Koran pro Haushalt einzuwenden? Niemand wird bestreiten, dass es sich um eines der kostbarsten kulturellen Erbstücke überhaupt handelt. Gut lesbare deutsche Übersetzungen liegen mittlerweile vor. Sie können helfen, die Ideologie der Radikalen als eine Minderheitenbewegung zu entlarven, die den Koran verkennt. Und sie kann dazu ermutigen, die vermeintliche Andersartigkeit zu hinterfragen. Man kann sich noch so oft erzählen lassen, dass es im Koran massenhaft Anspielungen auf jüdische und christliche Stoffe gibt. Dass Abraham, Isaak, Jesus und Maria darin vorkommen. Dass Mohammed die Bibel als heilige Offenbarung anerkannte. Dass es viele theologische Parallelen gibt (so viele, dass die christliche Islamkritik den Koran seit Dantes „Göttlicher Komödie“ immer wieder als Abklatsch christlicher Ideen hingestellt hat). Aber nur wer wirklich einmal den Koran in die Hand nimmt, ein Gespür für die lose Form einer Sure bekommt und für die Spiritualität des Textes, der entwickelt eine Vorstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Mancher mag die Hoffnung für naiv halten, dass bloßes Lesen die Sicht auf den Islam verändert – aber dann muss er sich ja über kostenlose Korane erst recht keine Sorgen machen.

Für Christen gibt es keinen Grund, die Konkurrenz der heiligen Bücher zu scheuen. Jeder wirkliche Gläubige geht ohnehin davon aus, dass seine Ansichten überzeugender sind als andere. Er muss sich nur wieder auf diese Ansichten besinnen. So halten es auch die Missionare des Gideonbundes. Ihr Bundesvorsitzender Ralf Hille schreibt in einer Mail zur islamischen „Lies!“-Aktion: „Das im Grundgesetz verbürgte Recht auf Religions- und Meinungsfreiheit gilt auch für Muslime.“ Gleichzeitig erinnert er sich an eine Aussage von Angela Merkel von 2010 vor evangelischen Funktionären im Kanzleramt. Nicht die Stärke des Islam mache sie nachdenklich, sagte Merkel damals. Sondern die Schwäche des Christentums.

lucas.wiegelmann@welt.de

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