Über 250 Jahre ist der protestantische Mystiker Gerhard Tersteegen nun schon tot – und doch unvergessen! Geboren wurde er als siebtes von acht Kindern in einem von reformierter Frömmigkeit geprägten Elternhaus in Moers. Als er sechs war, starb sein Vater. Gerhard besuchte die Lateinschule und erwies sich als sehr begabt. Aber ein Studium kam später aus finanziellen Gründen nicht in Betracht. Mit 16 ging er nach Mülheim zu seinem erfolgreichen Schwager in die Kaufmannslehre, und schließlich versuchte er zwei Jahre lang, ein eigenes Geschäft zu betreiben. Damals machte er die Bekanntschaft Erweckter, die ihm mystische Schriften nahebrachten. Von diesen war er so beeindruckt, dass er das Gelesene ins Deutsche übersetzte.
1719 stieg er aus dem ungeliebten Beruf als Kaufmann aus und wurde Seidenbandweber. Das war eine Tätigkeit, die viel Arbeit in gekrümmter Haltung bei wenig Lohn bedeutete. Tersteegen lebte zurückgezogen und ärmlich, hatte aber endlich mehr Zeit, sich mit seinen Büchern zu befassen. Abends machte er sich oft auf den Weg, Kranke, Arme und Leidende zu besuchen, um mit ihnen das Wenige zu teilen, das er besaß.
Nach einigen Jahren intensiver geistiger Suche machte der Laientheologe am Gründonnerstag 1724 eine Bekehrungserfahrung. Mit seinem Blut hielt er daraufhin seine „Verschreibung“ fest: „Meinem Jesus! Ich verschreibe mich dir, meinem einzigen Heiland … zu deinem völligen und ewigen Eigentum. Ich entsage von Herzen allem Recht und aller Macht über mich selbst. Von diesem Abend an sei dir mein Herz und meine ganze Liebe auf ewig zum schuldigen Dank ergeben und aufgeopfert. … Befehle, herrsche und regiere in mir!“
Vier Jahre später gab Tersteegen seinen Beruf ganz auf und lebte bescheiden in einer einfachen Hütte. Bewusst blieb er ehelos. Ihm war klar: „Alle äußeren Dinge kommen mit dem Wesen unserer Seele nicht überein. Man muss wie Pilger wandeln, frei, bloß und wahrlich leer. Viel Sammeln, Halten, Handeln macht unsern Gang nur schwer.“ Als Autodidakt wirkte der Laienprediger in der Erweckungsbewegung: In Scheunen und Schuppen legte er die Bibel aus – oft vor einigen hundert Menschen.
Pastoren seiner evangelischen Landeskirche beschwerten sich schließlich bei der Kirchenleitung über den merkwürdigen Wanderprediger. Doch das Konsistorium fand an seiner Lehre nichts auszusetzen. Immerhin hatte er die Ansicht vertreten, dass die Reformation aufs Jämmerlichste verfallen sei. Namentlich reformierte Pastoren waren wegen des Zulaufs zu seinen Erbauungsstunden neidisch und konnten schließlich bei der Obrigkeit ein Redeverbot für ihn erwirken, an das er sich zehn Jahre lang hielt.
„Hier ist die Ruh, hier ist Vergnügen“
Tersteegen verfasste einige Biographien großer katholischer (!) Christen. In seinem „Kurzen Bericht von der Mystik“ (1768) heißt es: „Gesichte, Offenbarungen, Einsprachen, Weissagungen und manche andere außerordentlichen Dinge können zwar einem Mystiker auch ungesucht begegnen, gehören aber so gar nicht zum Wesentlichen der Mystik…“ Und weiter: Mystiker „reden wenig, sie tun und sie leiden vieles, sie verleugnen alles, sie beten ohne Unterlass, der geheime Umgang mit Gott ist ihr ganzes Geheimnis.“ Im engeren Sinn wird Mystik von Tersteegen sodann definiert als „die Erleuchtung, welche der Apostel den Gläubigen noch erbittet (weit unterschieden von der anfänglichen Erleuchtung).“ Für ihn sind Heilig- und Selig sein dasselbe, „nur dass in diesem Leben die Sache stufenweise unter Kreuz und Proben fortgesetzt, in jenem Leben aber in völligem und unwandelbarem Genuss und Glanz erscheinen wird.“
Beim Begriff der „Heiligung“ dachte er an die Gleichförmigkeit mit Jesus Christus. Wenn Mystik Ganzheitlichkeit bedeutet, dann hier: „Gott locket mich; nun länger nicht verweilet! / Gott will mich ganz; nun länger nicht geteilet! / Fleisch, Welt, Vernunft, sag immer, was du willst, / meins Gottes Stimm mir mehr als deine gilt.“ Diese Einstellung bedeutete für ihn allerdings keineswegs Griesgrämigkeit oder Trübsinn. Vielmehr betonte er, das menschliche Herz sei von Gott zu nichts anderem geschaffen als zur Freude. Die Glaubensvereinigung mit Christus hat nach seiner Überzeugung ein aufgeräumtes, munteres Gemüt und eine harmonische, friedsame Lebensart zur Folge.
In der Schrift „Weg der Wahrheit“ (1750) bietet er seine mystische Glaubenserfahrung im Sinne von „Liebesmystik“ anderen Christen als Lebenshilfe an. Dass diese mystische Erfahrung gefühlsbetont war, geht beispielsweise hervor aus dem Liedtext „Ich bete an die Macht der Liebe“, in dem es heißt: „Ich fühl’s, Du bist’s, Dich muß ich haben, / Ich fühl’s, ich muss für Dich nur sein; / Nicht im Geschöpf, nicht in den Gaben, / Mein Ruhplatz ist in Dir allein. / Hier ist die Ruh, hier ist Vergnügen; / Drum folg ich Deinen selgen Zügen.“
Mit seinen Predigten gelang es Tersteegen über lange Jahre hinweg, viele Menschen innerlich aufzubauen und aufzurichten. Die Zahl seiner meist seelsorgerlichen Briefe ging in die Tausende. 1746 erwarb er in Mülheim ein Wohnhaus, das heute als Tersteegen-Haus in der Treinerstraße ein Heimatmuseum beherbergt. In ganzheitlichem Sinne wirkte er auch als Laienarzt und verteilte an Bedürftige kostenlos von ihm bereitete Heilmittel. Bereits 1729 hatte er unter dem Titel „Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen“ Abhandlungen und Sinnsprüche veröffentlicht, aber auch Lieder, die zum Teil noch heute Gemeingut in evangelischen Gemeinden sind. Insgesamt sind über hundert Lieder aus seiner Feder überliefert. Immer wieder kommt in ihnen seine mystische Spiritualität zum Ausdruck, etwa wenn er formuliert: „O Geist, o Strom, der uns vom Sohne / eröffnet und kristallenrein / aus Gottes und des Lammes Throne / nun quillt in stille Herzen ein: / Ich öffne meinen Mund und sinke / hin zu der Quelle, dass ich trinke!“
Bis ins Alter lebte Tersteegen seinen Glauben mit Inbrunst, aber immer mehr zurückgezogen. Seine Schriften fanden schon zu Lebzeiten, aber auch nach seinem Tod weite Verbreitung. So fragten russische Soldaten 1812 am Niederrhein nach Tersteegens Grab; sein Gedicht „Ich bete an die Macht der Liebe“ hatte durch die Vertonung eines russischen Komponisten die Menschen dort ergriffen – schon bevor Friedrich Wilhelm III. es zum Abendgebet des preußischen Heeres machte und es schließlich Bestandteil des Großen Zapfenstreichs deutscher Soldaten wurde. Noch heute enthält das Evangelische Gesangbuch acht seiner Lieder, darunter „Gott ist gegenwärtig“ (Nr. 165), in dem sich tiefe mystische Empfindung kundtut: „Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, / aller Dinge Grund und Leben, / Meer ohn’ Grund und Ende, Wunder aller Wunder, / ich senk mich in dich hinunter. / … Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte, / Herr, berühren mein Gesichte! / Wie die zarten Blumen willig sich entfalten / und der Sonne stille halten, lass mich so still und froh / deine Strahlen fassen / und dich wirken lassen!“
Prof. Dr. Werner Thiede https://www.gemeindenetzwerk.de/?p=16639