Nach der Ermordung seiner Tochter wurde der Vater Christ

 Am 12. Juni verschleppen Unbekannte – vermutlich Islamisten – eine Gruppe von Christen im Jemen. Drei Tage später werden die beiden deutschen Pflegehelferinnen Anita Grünwald (24) und Rita Stumpp (26) sowie die südkoreanische Lehrerin Um Young-Sun erschossen aufgefunden. Die beiden Deutschen waren Studentinnen der Bibelschule Brake im westfälischen Lemgo. Im Jemen absolvierten sie ein zweimonatiges Praktikum in einem staatlichen Krankenhaus in Saada.
Wie geht es den Angehörigen ein halbes Jahr nach der Ermordung ihrer Tochter? idea-Reporter Karsten Huhn traf die Familie von Anita Grünwald in Calberlah bei Wolfsburg und erlebte eine Überraschung.
Jenna, Steve, Anita. Ein Wohnzimmer voller Bilder. Steve, Anita, Jenna. Als kleine Kinder, als große Kinder und schließlich als Erwachsene. Das jüngste Bild stammt aus diesem Jahr, ein Geschenk der drei Kinder zur Silberhochzeit der Eltern im März. Anita, Jenna, Steve. Alle drei lachen auf diesem Bild im Wohnzimmer von Familie Grünwald in Calberlah, nahe Wolfsburg. Ein Bild voll Lebensfreude und Leichtigkeit. Seit Juni fehlt Anita.
Seit Juni fehlt Anita
Viktor und Rita Grünwald sind sofort bereit, über den Tod ihrer ältesten Tochter zu sprechen. Bisher hatten sie alle Presseanfragen abgelehnt; für idea machten sie eine Ausnahme. Es wird ein schweres Gespräch. Manche Sätze brechen ab, sie ersticken in Tränen und Trauer.
Vor 30 Jahren ist die Familie aus Kasachstan nach Deutschland gezogen. Ihr Haus haben die Grünwalds mit der Hilfe von Verwandten und Freunden weitgehend selbst gebaut. Viktor Grünwald arbeitet bei Volkswagen in Wolfsburg, er testet Airbags mit Crashtests, eine interessante Aufgabe, zudem gut bezahlt.
Rita Grünwald ist Bürokauffrau, sie hat die drei Kinder erzogen, seit April arbeitet sie in Teilzeit als Zustellerin bei der Deutschen Post. Jenna (16), die Jüngste, geht noch zur Schule, Steve (22) arbeitet als Konstruktionsmechaniker bei Volkswagen.
Anita (24) war ausgebildete Kinderkrankenschwester, knapp drei Jahre lang besuchte sie die Bibelschule Brake. Im Herbst sollte die Abschlussfeier stattfinden. Anfang Juni brach Anita mit ihrer Cousine Rita zum Praktikum in den Jemen auf.
Mit dem Tode bestraft
Jemen, gelegen auf der arabischen Halbinsel, eineinhalbmal so groß wie Deutschland, 22 Millionen Einwohner. Die Winter sind mild, die Sommer oft unerträglich heiß, Regen gibt es kaum. Der Islam ist Staatsreligion, die Werbung für andere Religionen ist verboten. Der Abfall vom Islam wird mit dem Tod bestraft.
In einer „Reise- und Sicherheitswarnung“ vom 13. Dezember 2008 hatte das Auswärtige Amt in Berlin bei Reisen nach Jemen „wegen bestehender Terrorgefahr und Risiko von Entführungen zu besonderer Vorsicht“ geraten. Von Reisen in die Regionen Marib und Saada wurde wegen der besonders angespannten Sicherheitslage dringend abgeraten. Am 17. September 2008 war ein Terroranschlag auf die Botschaft der USA verübt worden. Am 12. Dezember 2008 waren drei deutsche Staatsangehörige verschleppt worden, kamen nach Verhandlungen aber wieder frei.
„Anita und Rita haben sich viel über den Jemen informiert“, sagt Rita Grünwald. „Sie wussten, wie gefährlich es ist. Aber sie haben uns wenig davon erzählt. Eine Hebamme aus dem Krankenhaus in Saada hatte bei einem Besuch in Brake die Arbeit vorgestellt. Das Krankenhaus besteht seit 30 Jahren und nie war den Mitarbeitern etwas passiert. Rita war sofort begeistert. Sie hat sich ja gewünscht, Hebamme zu werden. Und Anitas Traum war es, einmal ein Waisenheim zu gründen.“
„Es war ihr Weg“
Einen Tag vor dem Abflug nach Jemen führt Viktor Grünwald mit seiner Tochter ein langes Gespräch. Sie scherzen über Heiratspläne und sie sprechen über Anitas bevorstehende Reise. „Ich musste weinen“, sagt Viktor Grünwald. „Ich weine sonst nie. Ich habe mir um Anita Sorgen gemacht.“
Die Reise in den Jemen war nicht der erste Auslandsaufenthalt von Anita Grünwald. Zuvor ist sie dreimal ins südostafrikanische Malawi geflogen, um in einem Kinderheim mitzuarbeiten. „Mein Mann war sehr unruhig“, sagt Rita Grünwald. „Er hat mich gefragt: ‚Warum hältst du Anita nicht zurück? Warum muss es Jemen sein?’“
„Anita und Rita waren ja erwachsen“, sagt Viktor Grünwald. „Wir konnten sie sowieso nicht bremsen, es war ihr Weg.“ Am 3. Juni fliegen Rita Stumpp und Anita Grünwald von Frankfurt/Main in die jemenitische Hauptstadt Sanaa, Flugdauer knapp acht Stunden. Einen Tag später erhalten die Eltern eine SMS: „Wir leben nicht nur, sondern wir werden hier richtig willkommen geheißen. So einen reibungslosen Ablauf hat bisher noch keiner von uns erlebt. Wir haben das Visum bekommen und der Abholer hat uns direkt am Ausgang empfangen. Wir können nur Danke sagen, weil es wirklich kein einziges Problem gab. Wir lieben Euch! Rita & Anita“.
Schuss in den Hinterkopf
Am 13. Juni fährt Rita Grünwald mit dem Fahrrad die Post aus, als sie auf dem Handy angerufen wird. „Wir haben gerade eine Gebets-SMS rausgeschickt“, sagt die Anruferin. „Worum geht es denn?“, fragt Rita Grünwald.„Hast du noch nicht gehört, dass Rita und Anita entführt worden sind?“, fragt die Anruferin.
Rita Grünwald trifft ihren Kollegen, der ihr die noch zu verteilende Post abnimmt. Sie stellt ihr Fahrrad ab und benachrichtigt ihren Mann, der einem Neffen beim Hausbau hilft. Zu Hause klingelt das Telefon, ein Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes in Berlin möchte ein Treffen vereinbaren.
Tags darauf kommen vier Männer und zwei Frauen in Zivil, Sie erfragen die Blutgruppe der Entführten und sie hören das Telefon ab, für den Fall, dass eine Lösegeldforderung eingeht. Man solle sich keine Sorgen machen, sagen die Mitarbeiter vom Bundeskriminalamt. Bisher seien Entführungen im Jemen immer gut ausgegangen.
Einen Tag später werden die entführten Frauen tot aufgefunden, ermordet durch einen Schuss in den Hinterkopf. Die Familie erfährt es aus dem Videotext, wenig später berichten alle Fernsehkanäle darüber. Acht Tage später werden die Leichen nach Deutschland überführt, am 23. Juni findet die Beerdigung statt.
Das Bundeskriminalamt rät den Eltern, die Toten nicht noch einmal anzusehen. 2.000 Menschen kommen zur Trauerfeier in die Immanuel-Gemeinde, einer baptistischen russlanddeutschen Gemeinde in Wolfsburg. Christen dürfen vor Gott klagen, sagt der Prediger, aber Christen hätten auch Trost durch die Hoffnung auf ein Wiedersehen im Himmel.
Ende Juni schickt das Bundeskriminalamt eine Kiste mit Kleidung und Büchern der Ermordeten. Die Ausweise und die Handys fehlen. Jugendgruppen beginnen für die trauernden Familien zu beten; aus ganz Deutschland treffen bei Grünwalds Karten ein. „Es gibt Zeiten, wo solche Karten guttun, und es gibt Zeiten, in denen einen nichts trösten kann“, sagt Rita Grünwald. „Die Sehnsucht, Anita zu hören, sie zu umarmen, ist sehr groß. Diese Sehnsucht ist durch nichts zu stillen. Es bleibt uns nur, den Schmerz zu ertragen.“
Mein Mann ist ein Wunder
Zunächst geht Rita Grünwald weiter arbeiten, die Luft und die Bewegung auf dem Rad tun ihr gut. Inzwischen ist sie krankgeschrieben. Ihr Schmerz ist gewachsen, zuletzt hat sie die Arbeit einfach nicht mehr geschafft.
„Aber mein Mann ist ein Wunder“, sagt Rita Grünwald. „Er ist erst durch Anitas Tod Christ geworden.“ Schon seit Jahren begleitet Viktor Grünwald seine Familie in den Gottesdienst. Gott interessiert ihn nicht besonders, dennoch geht er mit, seiner Frau und den Kindern zuliebe. Er hilft, als das Gemeindehaus gebaut wird und bei Gemeindeausflügen brät er Schaschlikspieße, obwohl er „nur halb dazugehört“.
Einmal beim Frühstück, noch im Pyjama, hat Anita Grünwald ihrer Mutter einen merkwürdigen Satz gesagt: „Wenn Papa dadurch zum Glauben käme, wäre ich bereit, dafür zu sterben.“ Der Satz hat sich eingebrannt bei Rita Grünwald, er ist so etwas wie ein Vermächtnis der Tochter.
Viktor Grünwald kannte diesen Wunsch. „Ich bin praktisch Anfänger im Glauben, obwohl ich eigentlich schon viel weiß“, sagt Viktor Grünwald. „Manchmal zweifle ich auch an Gott. Ich komme von der Warum-Frage nicht los. Und manchmal schimpfe ich auch. Aber der Tod kann nicht das Ende sein. Dann wäre der Schmerz nicht zu ertragen und alles wäre sinnlos. Ich habe die Hoffnung, meine Tochter wiederzusehen.“
Ende September sind die Familien Grünwald und Stumpp zur Absolvierungsfeier der Bibelschule Brake ins westfälische Lemgo (bei Bielefeld) gefahren. In der ersten Reihe bleiben zwei Stühle leer. Anita Grünwald und Rita Stumpp hätten an diesem Tag ihre Abschlussurkunden bekommen sollen.
„Wir reden viel von Anita, aber wenig davon, wie es uns selbst geht“, sagt Rita Grünwald. „Ich denke: ‚Wenn ich Viktor etwas von mir sage, muss er neben seinem Leid auch noch mein Leid mittragen.’ Jedes Gespräch bedeutet ja, den Schmerz zuzulassen. Also sage ich lieber nichts. Das Sprechen fällt leichter, wenn Freunde bei uns sind.“
Wie also geht es der Familie ein halbes Jahr nach dem Tod ihrer Tochter? Rita Grünwald sagt: „Der Dezember ist schwierig, der Monat zieht sich besonders lange hin. Im Großen und Ganzen geht es uns aber gut. Wir sind versorgt, wir haben einen wunderbaren großen Gott, der uns trägt, und wir haben eine wunderbare Gemeinde.“
Viktor Grünwald meint: „Früher habe ich mich auf den Weihnachtsurlaub gefreut wie ein kleiner Junge. Diesmal ist keine Freude da.“idea.de

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