Was er da wohl gefunden hat?
ali
Ein Psychologe durchleuchtet in einem Buch die westeuropäische Seele und denkt nach über den Beitrag der Christen zur Gesundung der Gesellschaft.
Viele westeuropäische Länder – darunter insbesondere Deutschland – wirken wie gelähmt. Trotz des hohen Wohlstands herrscht Unzufriedenheit, trotz vielfältigster Lebensoptionen gibt es keine gesellschaftlichen Visionen mehr. Das jedenfalls schließt der Psychologe Stephan Grünewald (Köln) aus den über 20.000 mehrstündigen Interviews, die das von ihm mitgegründete rheingold-Institut mit Menschen geführt hat. In seinem Buch „Deutschland auf der Couch“ (Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2006) zeichnet der 45jährige das Psychogramm der Deutschen. Die Ergebnisse der Studie lassen sich zum Großteil auch auf andere westeuropäische Länder übertragen.
idea-Reporter Marcus Mockler sprach mit Grünewald – katholisch und Vater von vier Kindern -– über die Visionslosigkeit eines Volkes und darüber, welchen Beitrag Christen zur Gesundung der Gesellschaft leisten können. idea: Herr Grünewald, Sie haben Deutschland auf die Couch gelegt. Ist das Land denn krank? Grünewald: Ja. Wir befinden uns in einem Zustand, den ich „bewegte Erstarrung“ nenne. Wir haben das Gefühl, in Arbeit und Familie das Beste zu geben – und dabei wie in einem Hamsterrad nicht von der Stelle zu kommen. Sinn und Vision unseres Lebens sind uns abhanden gekommen. Wir wissen nicht mehr, wofür wir den Lebensaufwand betreiben und auf welches Ziel hin wir unsere Kinder erziehen sollen. idea: Zukunftsängste sind ein Faktor, der Deutschlands Wirtschaft in die Krise geführt hat. Aus Angst vor der ungewissen Zukunft werden Investitionen zurückgehalten – und dadurch lahmt die Nachfrage. Wie können wir diesen Teufelskreis durchbrechen? Grünewald: Da die Ursachen tiefer liegen, lässt sich dieser Teufelskreis zunächst gar nicht durchbrechen. Wir können nämlich nicht zuversichtlich nach vorne schauen, wenn man vorne nichts sieht. Wir beobachten im Moment eher den Trend zurück: Weil man keine Vorstellung hat, wohin die Reise gehen soll, erinnert man sich lieber an die Aufbruchstimmung der 60er oder 70er Jahre. idea: Fehlt unserer Gesellschaft Religion? Grünewald: Wir haben eine unbewusste Ersatzreligion geschaffen, die sich das Leben auf dieser Erde als Paradies vorstellt – ohne Krankheit, Alter, Tod. Ein Leben, in dem wir selbst eine Allmachtsposition bekommen. Das führt zum Beispiel zu einem Boom an Schönheitsoperationen und an wissenschaftlicher Forschung danach, wie man die Erbanlagen bestimmen kann. Dieser Schöpfungswahn hat auch eine seelische Komponente, dass wir nämlich alle Stimmungslagen beherrschen wollen. Unpässlichkeiten werden durch Medienkonsum via Knopfdruck beseitigt. idea: Und vor lauter Medien kommt man nicht mehr zur Ruhe. Grünewald: Genau. Wir versuchen, im täglichen Kreuzzug gegen die Langeweile Momente des Unbehagens, des Innehaltens und der Besinnung gar nicht mehr aufkommen zu lassen, weil wir Angst haben, das könnte uns verstören. Dabei sind Besinnungspausen ein produktiver Schritt, um aus dem Hamsterrad unserer Betriebsamkeit auszusteigen. idea: Ist nicht auch die Fußball-Weltmeisterschaft nur eine hochdosierte Beruhigungspille, die unsere Gedanken von Arbeitslosigkeit und kollabierenden Sozialsystemen ablenkt? Grünewald: Wir befinden uns momentan im mentalen Ausnahmezustand. Die WM verheißt uns nämlich Vision. Wir haben jetzt vier Wochen lang das Gefühl, eine Gemeinschaft zu sein; wir haben Nachbarschaftsfeste, die Leute werfen den Grill an, laden Freunde ein. Wir haben das Ziel vor Augen, Weltmeister zu werden. Und wir hoffen, dass sich damit alle anderen Probleme in Luft auflösen. Doch unabhängig vom Erfolg oder Misserfolg des deutschen Teams wird nach dem Endspiel das böse Erwachen kommt. Dann merken wir: Es gibt kein Ziel mehr. Die Weltöffentlichkeit interessiert sich nicht mehr für uns, die Mehrwertsteuererhöhung steht ins Haus, und die Arbeitslosigkeit ist immer noch sehr hoch. idea: Schlimme Ereignisse wie das Jahrhunderthochwasser an der Elbe haben in Deutschland wieder den Gemeinsinn geweckt und die Augen für sinnvolle Ziele geöffnet. Brauchen wir ab und zu Katastrophen, um glücklicher zu werden? Grünewald: So lange wir keine positiven Visionen haben, schaffen Katastrophen eine Negativvision. Eine Aufgabe muss bewältigt werden, die Zukunft liegt in der Beseitigung der Katastrophenfolgen. In dieser Situation schaffen wir es, von den Geiz-Geilen zum Spendenweltmeister zu mutieren. idea: Welche Folgen hat die von Ihnen beobachtete Ersatzreligion, die alles Unangenehme im Leben auszublenden versucht? Grünewald: Durch den Anspruch, das Paradies auf Erden schaffen zu wollen, verwandeln wir unseren Alltag in eine finstere Hölle. Denn gemessen am Paradies ist unser Alltag immer begrenzt, banal und grau. Hindernisse nehmen wir nicht mehr als gottgegeben, sondern als Betriebsstörung. Übrigens sind in diesem Sinn auch Kinder „Hindernisse“, die wir als Störenfriede empfinden, weil sie unsere Wahlfreiheit und unser Partyleben unterminieren. idea: Sie haben selbst etwas von den Allmachtsphantasien in unserer Gesellschaft zu spüren bekommen, als 1999 ihre Tochter Karola mit Down-Syndrom geboren wurde. Der behandelnde Arzt ließ durchschimmern, dass die Geburt eines behinderten Kindes heutzutage nicht mehr notwendig wäre. Waren Sie darüber erschüttert? Grünewald: Ich hätte mir nach der Geburt vom Arzt etwas Tröstendes, Verständnisvolles erhofft. Aber seine Bemerkung machte deutlich, dass das Kind aus seiner Sicht „unwertes Leben“ ist. Die Mentalität ist halt inzwischen so: Ist das Kind weg, ist das Problem aus der Welt. Dabei ist Karola so liebenswert. Überall, wo sie auftaucht, öffnet sie die Herzen. idea: Sie kritisieren, dass in unserer Gesellschaft nicht mehr gestritten wird und jeder nur noch das private Glück sucht. Die Kirchen haben aber nach wie vor unbequeme Botschaften – gegen Egoismus, Materialismus, Lebensfeindlichkeit, für eine solidarische Gesellschaft. Sind die Kirchen selbst zuwenig streitlustig? Grünewald: Ja. Sie haben heute kaum mehr gesellschaftliche Mitsprache. Dabei könnten sie profiliertere Positionen einbringen als die Politiker, aber sie vertreten das nicht mit der nötigen Streitlust. Das heutige Orientierungsvakuum wird von den Kirchen nicht annähernd ausgefüllt. idea: Andererseits erlebt die Kirche – zumindest die katholische – doch auch riesigen Widerstand, wenn man etwa an den Kampf des Papstes und auch der Evangelikalen für eine „Kultur des Lebens“ – gegen Abtreibung und Euthanasie – denkt. Grünewald: Das ist doch ein gutes Zeichen, wenn die Leute sich aufregen und wenn aufrichtig gestritten wird. Schade ist nur, wenn sich das lediglich an Verboten aufhängt. Es fehlt das Positivbild: Wie soll modernes Leben aus kirchlicher Sicht aussehen? Das beginnt in der Gemeindearbeit. Ab und zu gehe ich in die Kirche, aber um aktuelle Lebensfragen, die sich mir in meinem Alltag stellen, geht es da nie. Dabei hadern die Menschen heute mit ihrer Lebenswirklichkeit, und sie suchen Orientierung. Doch kaufen sie sich lieber ein Ratgeberbuch, als sich Rat bei der Kirche zu holen. idea: An anderer Stelle in Ihrem Buch sagen Sie, wir bauen Spannungen zu schnell ab und befriedigen Wünsche zu schnell – etwa durch Fastfood und Telefonsex. In Anlehnung an Neil Postmans Medienbuch „Wir amüsieren uns zu Tode“ formulieren Sie „Wir onanieren uns zu Tode“. Was meinen Sie damit? Grünewald: Dieses Verhaltensmuster der permanenten, allzu schnellen Triebbefriedigung, führt dazu, daß wir uns unsere Lebensprobleme vom Leibe halten. Dabei sind Spannungen durchaus positiv: Sie sind der Motor für Entwicklung und Fortschritt. Grünewald: Sie sollten den Glauben offensiver vertreten und für christliches Gedankengut streiten. Sie sollten auch in Gegenwart anderer ihre Frömmigkeit pflegen – etwa beim Gebet zu Tisch – und es nicht zulassen, dass der Glaube zur Privatreligion wird. |
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Nein, bitte nicht!
Man wird doch in vielen Regionen schon ständig auf der Strasse von Christen vollgetextet!
Bitte, bitte nicht noch mehr, dass kann doch keiner ertragen!
Natchen hat vollkommen Recht. Wir müssen unseren Glauben offensiv Vertreten und, wie Paulus schon sagt, uns des Evangeliums nicht schämen! (s. Römer 1:16)
Ganz meine Meinung. Grünewald trifft den Nagel auf den Kopf.
Und wichtig finde ich vor allem den Schluss: “den Glauben offensiver vertreten und für christliches Gedankengut streiten”. Darum geht es nämlich, wenn die christliche Kirche unsere heutige Gesellschaft überleben will.