Die diesjährige Tour de France gerät zur Tour de Farce: Sinkewitz,
Winkurow, Moreni, Rasmussen – Namen, die nicht für Helden, sondern für
Doping stehen. Eine Touretappe ohne gelbes Trikot, ein Tour-Chef, der
nach wie vor an ihr festhält, ein ebenfalls dopingverdächtiger
Nachrücker auf dem ersten Platz. Die Tour, die endlich all den
Doping-Verdächtigungen und -Bekenntnissen der letzten Monate ein Ende
setzen sollte, verkommt zum Desaster, was Ehrlichkeit angeht.
Als die Radler am 7. Juli in London zur diesjährigen Tour de France
aufbrachen, war es noch eine Tour der Hoffnung: Die Fahrer hatten einen
Ehrenkodex unterschrieben, in dem sie sich verpflichten, nicht zu
dopen. Veranstalter und Fans hofften auf eine saubere Rundfahrt.
Fast zwanzig Tage später, kurz vor dem Ende der Tour, werden die
Rufe laut, die diesjährige Tour de France doch noch vor dem Zieleinlauf
in Paris abzubrechen. Der (vorerst) letzte Höhepunkt des Desasters ist
die Verhaftung des italienischen Radprofis Moreni und der Ausschluß des
im Gelben Trikot fahrenden bisherigen dänischen Spitzenreiters
Rasmussen durch das eigene Team.
Warum tut ihr das?
In einem ausführlichen Hintergrundkommentar in der Süddeutschen Zeitung stellt Klaus Hoeltzenbein die entscheidende Frage – und versucht, sie zu beantworten:
Wer versucht, auch nur einen letzten Rest von
Verständnis aufzubringen für jene, die gerade die Tour de France
zugrunde dopen, der muss der Karawane folgende einfache Frage stellen:
Warum tut ihr das?[Klaus Hoeltzenbein, SZ vom 26.7.2007]
Eines scheint in diesem Jahr offensichtlicher zu sein als je zuvor:
Wer die Tour gewinnen will, kommt ohne Doping nicht aus. Und das ist
nicht verwunderlich, gehen Experten doch davon aus, daß die sportliche
Leistungsfähigkeit austrainierter Körper sich nicht nennenswert (im
Promille-Bereich) unterscheidet, geschicktes Doping aber bis zu zehn
Prozent mehr Leistung bringen kann.
Letztlich kann man sich nach all den Geständnissen der letzten
Monate fast schon sicher sein, daß all die beim Publikum beliebten
Alleingänge und Ausreißer auf den letzten Kilometern einer Etappe, all
die spektakulären sportlichen Leistungen nicht der eigenen Kraft,
sondern geschicktem Doping zu verdanken waren. Und man darf sich
genauso sicher sein, daß sich die Beteiligten der möglichen und
sicheren Folgen des Dopings nur zu bewußt sind – und das Auffliegen ist
noch die unwahrscheinlichste und vielleicht harmloseste davon.
So unterschiedliche Typen wie Jaksche, Sinkewitz,
Winokurow und Rasmussen fanden zusammen in einem geschlossenen System,
das die Manipulation verinnerlicht hat. Sie unterzogen sich
medizinischen Feldversuchen im Bewusstsein, dass diese todbringend sein
könnten, im günstigeren Falle nur die Lebenserwartung verkürzen würden.[Klaus Hoeltzenbein, SZ vom 26.7.2007]
Deshalb die dopenden Profis bemitleiden zu wollen, ist fehl am
Platze. Die bekannten (Spät-)Folgen sind schlicht Berufsrisiko, genauso
wie es Berufsrisiko eines Formel-1-Fahrers ist, mit 250 km/h in die
Mauer zu rasen und umzukommen. Und wie die Geschichte der Tour zeigt,
sind Betrug und Doping keine neuen Erscheinungen, sondern waren von
Anfang an ihre Begleiter.
Wer also heute bei der Tour betrügt und dopt, der
kann auf eine Tradition verweisen. Nur dass in den Anfängen noch der
naive Versuch unternommen wurde, den Schmerz mit Rotwein zu betäuben.
Spätestens seit Tom Simpson aber 1967 am Mont Ventoux vom Rad fiel,
hatte die Chemie die Kraft der Naturprodukte abgelöst.[Klaus Hoeltzenbein, SZ vom 26.7.2007]
Soweit zur Beschreibung der Situation und der Analyse der
Geschichte. Was aber ist die Antwort auf die eingangs gestellte Frage:
"Warum tut ihr das?"
Die Antwort: Maßlose Gier
Wie die Geständnisse vieler ehemaliger Radprofis zeigen, kam jeder,
der ganz nach oben wollte, irgendwann zur Frage des Dopings – und
wahrscheinlich keiner daran vorbei.
Der Radsport bot die Chance, zum Millionär zu werden. Wer sich jedoch verweigerte, den verstieß das System.
[Klaus Hoeltzenbein, SZ vom 26.7.2007]
Die Tour ohne Doping zu gewinnen, das war nicht möglich, und
diejenigen, die die Tour beherrschten, beherrschten ebenso die Teams.
Wer nicht mitmachte, hatte nie Aussicht auf Gewinn. Und es gibt wenig
Aussicht auf Besserung:
Der Radsport mit seinem archaischen Gruppenzwang
ist ein Sonderfall des Sports. Wie wenig er ein Einzelfall ist, wird
schon Olympia 2008 in Peking beweisen. Dort erwartet den Spitzensport
die nächste dramatische Niederlage. Gerade in China wird die Lüge
Geschäftsgrundlage sein. Auch dort wird es Sportler wie Winokurow
geben, die für den ewigen Ruhm und das Bankkonto alles und noch mehr
riskieren. Sportler, die in ihrer Gier so maßlos werden, dass sie neben
all dem Teufelzeug, das keine Kontrolle entdecken kann, auch noch
Pillen einwerfen und sich Spritzen setzen, die sie in die Arme der
Fahnder treiben.[Klaus Hoeltzenbein, SZ vom 26.7.2007]
Denn letztlich geht es nicht mehr vordergründig um den Ruhm – den
könnte man auf ehrlichem Weg wohl sicherer erlangen – sondern um Geld,
viel Geld. Und wo Geld im Spiel ist, ist es mit der Ehrlichkeit und
hehren Prinzipien meist nicht weit her. Trotzdem wäre es falsch, den
Kopf resigniert in den Sand zu stecken:
Überall dort, wo viel Geld im Spiel ist, wird das
Böse weiterhin wirken. Aber es wäre fatal, den Kampf nicht zu führen.
Denn mancher junge Doper würde nur zu gerne darauf verzichten, sich
selbst zu ruinieren.[Klaus Hoeltzenbein, SZ vom 26.7.2007]
Und manch einer sieht in all den Skandalen dieser Tour sogar Grund zur Hoffnung auf eine tatsächliche Wende im Radsport. Denn:
Diese Tour hat geschafft, was in der Vergangenheit
nie gelang. Die dunkle Wahrheit, die Beobachter längst ahnten, wird
Stück für Stück, Fahrer für Fahrer und Team für Team aufgedeckt.[Steffen Dobbert, ZEIT online vom 26.7.2007]
Ein bißchen dazu beigetragen hat das Geständnis des deutschen
Radprofis Jörg Jaksche, der im Spiegel-Interview wenige Tage vor
Tour-Beginn einen tiefen Einblick nicht nur in die Praxis des Dopens,
sondern auch in die Beurteilung durch die Beteiligten gab:
Es ist pervers, aber das Doping-System ist gerecht,
weil alle dopen. Radsport ohne Doping ist nur gerecht, wenn wirklich
niemand mehr dopt. […] Doping hat niemandem gefallen, aber in der
Welt, in der wir leben, herrschte dafür kein Unrechtsbewusstsein. […]
Für mich war das kein Doping. Für mich war das eine Anpassung an das
System.[Jörg Jaksche im Spiegel-Interview, ZEIT online vom 5.7.2007]
Der "Schönheitsfehler" in dieser Argumentation ist, daß nicht alle
dopen, sondern nur die, die zum einen das Geld und zum anderen ein Team
haben, das sie zum potentiellen Tour-Gewinner aufbaut.
Als Vorbilder untauglich
Auch die späte Einsicht so manches Doping-Sünders, der nun – Jahre
nach Beendigung seiner Profi-Karriere – eingesteht, ebenfalls gedopt zu
haben, mag uns nicht zu Begeisterungsstürmen hinreißen, geschweige denn
in solchen Menschen Vorbilder zu sehen.
Auf der Suche nach so etwas wie Vorbildern, im Ekel
vor all den Tricksern, Schweigern, Blutaustauschern muss man
mittlerweile schon sehr tief in der Kiste der Erinnerung kramen, so
tief, bis man bei den Schwarzweißbildern ankommt…[Alex Rühle, SZ vom 26.7.2007]
Und auch wenn heute Sportler immer weniger als Idole, als Vorbilder
taugen, weil das Doping eben nicht nur im Radsport allgegenwärtig ist,
die Sehnsucht nach Vorbildern ist ungebrochen.
Auf den jährlich neu kursierenden Listen über die
wichtigsten Vorbilder und Idole stehen Leute wie Mutter Teresa, Che
Guevara, Gandhi oder Martin Luther King immer wieder ganz oben. Viele
der Befragten, die diese Figuren der Zeitgeschichte angeben, können sie
auf Nachfrage historisch gar nicht genau einordnen, diese Helden sind
eher Figuren eines ethischen Pop-Olymps als Vorbilder, von denen man
sich konkrete Handlungsanweisungen erwartet, sie sind diffuse
Sehnsuchtsfiguren von einem besseren Leben. Von Sportlern erwartet das
wahrscheinlich eh keiner mehr.[Alex Rühle, SZ vom 26.7.2007]
Es gibt eine Antwort auf unsere Sehnsucht nach einem besseren
Leben. Und wir müssen dazu nicht erst ganz oben stehen, uns mit allen
Mitteln selbst ganz oben auf das Podest bringen. Wir können kommen, wie wir sind. Einzige Bedingung: Ehrlichkeit.