“Ich liebe die Tochter meines Vergewaltigers”

Es war bereits mehr als ein Jahr seit der Totgeburt meiner Tochter Casey vergangen und es sah so aus, als würden mein Mann Steve und ich nie das dritte Kind bekommen, das wir uns so sehnsüchtig wünschten. Jeder Monat der verstrich, brachte erneut Enttäuschung mit sich. Ich saß im Wartezimmer meines Arztes wie schon so viele Male zuvor. Die Arzthelferin war gewohnt, mich dort zu sehen und sie wusste, wie sehr ich versucht hatte, nach der Totgeburt wieder schwanger zu werden. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum sie sich ein gewisses Lächeln nicht verkneifen konnte und mir zuflüsterte: „Der Doktor wird gleich bei Ihnen sein … und ich denke, Sie werden sich über das freuen, was er zu sagen hat.“ Sie hatte ja keine Ahnung!

Der Arzt kam. Und tatsächlich, ich war wieder schwanger. Doch keiner von uns beiden lächelte, denn wir wussten: Ich war vergewaltigt worden! Was eigentlich wunderbare Nachrichten hätten sein sollen, stach mir stattdessen durchs Herz und brachte all die Erinnerung an den brutalen Überfall zurück. Mein Mann Steve war an jenem Abend noch einmal in unsere Kirchengemeinde zu einer Veranstaltung gegangen. Ich war zu müde, um ihn zu begleiten. Unsere beiden Jungs waren bereits im Bett und auch ich ging schlafen, noch bevor Steve das Haus verließ. Irgendwann später ging das Licht in unserem Schlafzimmer an. „Schatz, mach bitte das Licht aus“, sagte ich im Halbschlaf. Das Licht erlosch – doch das Gefühl, das sich im Raum ausbreitete, war verstörend. Ich öffnete meine Augen uns sah die Umrisse eines Mannes im Türrahmen. Doch es war nicht mein Mann!

Ich sprang auf, doch sofort machte der Fremde mir klar, dass ich ja keinen Laut von mir geben solle. Ich dachte an meine beiden Söhne und war still. Die Minuten, die nun folgten, waren furchtbar! Zuerst wimmerte ich, ich flehte ihn an. Dann schwieg ich – und mit einem Messer an der Kehle und dem Gedanken an meine Jungs ertrug ich die schlimmste Demütigung, die einem Menschen widerfahren kann: Ich wurde in meinen eigenen vier Wänden vergewaltigt – in dem Bett, das ich mit meinem Ehemann teilte! Mittendrin bat ich Gott laut um Vergebung für meinen Peiniger – und einen Moment lang hörte er auf. Ich fragte mich, ob er sich für seine Tat schämte, oder ob er mich loslassen oder mich doch umbringen würde. Er tat nichts davon. Er machte einfach weiter.

Das Trauma einer Vergewaltigung ist unbeschreiblich. Die Erinnerung an diesen Furcht erregenden Moment brachte jedes erdenkliche Gefühl in mir an die Oberfläche: Es reichte von persönlicher Scham über eine tief sitzende Unsicherheit bis hin zu einem wachsenden Missklang in der Beziehung zu Steve. Vergewaltigung verschärft diese Dinge und reißt alles mit sich, das nicht auf festem Grund steht. Meinen Arzt hören zu sagen, dass ich schwanger sei, klang wie ein Richterspruch, der mich dazu verurteilte, eine lebenslange Brandmarkung meiner Vergewaltigung tragen zu müssen. Mein Vertrauen in Gott begann zu bröckeln. Es ist leicht, Parolen für das Leben zu skandieren und ein Plakat in die Höhe zu halten, wenn man auf einer Demonstration gegen Abtreibung mitläuft. Aber die Melodie ist eine andere, wenn man selbst auf der anderen Seite steht – und sich damit abfinden muss, dass das eigene Leben sich dramatisch verändern wird.

Ich glaube, aus diesem Grund nahm ich die Abtreibungspille „Ovral“. Diese Pille verhindert, dass sich ein befruchtetes Ei in der Gebärmutter einnisten kann. Sie wird in den USA regelmäßig Opfern von Vergewaltigungen verabreicht. Mein Arzt gab sie mir und betonte dabei die Unmöglichkeit, das Kind einer Vergewaltigung großzuziehen. Mehr als einmal erinnerte er mich daran, dass es sich ja nur um „einen Zellhaufen“ handele. Da ich jedoch daran glaube, dass ein befruchtetes Ei bereits ein menschlicher Embryo ist, lehnte ich zunächst ab und sagte, dass dies für mich einer Abtreibung gleich käme. Erstaunlicherweise aber teilte ein Großteil meiner christlichen Freunde und meiner Familie den Standpunkt des Arztes. Mein Pastor. Meine Mutter. Und auch Steve. Die Frage, ob ich die Pille nehmen würde oder nicht, wurde zudem von einer weiteren Tatsache beeinflusst: Das Kind würde nicht einmal halbwegs meinem Mann ähneln, den mein Vergewaltiger war ein Schwärzer gewesen…

• „Die Leute werden denken, du wärst fremdgegangen!“

• „Du wirst das Gesicht dieses Mannes jeden Tag im Gesicht deines Kindes sehen!“

• „Willst du jedem erzählen, dass du vergewaltigt wurdest? Das wirst du nämlich dann müssen!“

Ich nahm die Pille bevor die ersten 72 Stunden nach der Vergewaltigung abgelaufen waren. Dann versuchte ich, nicht mehr daran zu denken, was natürlich unmöglich war! Viel zu groß war die Angst, ich könnte mich mit Aids infiziert haben; hinzu kam die wachsende Empfindlichkeit zwischen mir uns Steve. Und dann stellten wir zu meiner großen Enttäuschung fest, dass die Pille nicht gewirkt hatte. Ich war schwanger! Gott sei Dank war wenigstens der Aidstest negativ! Und doch legte mein Arzt mir und Steve eine 6-monatige sexuelle Abstinenz nahe, bis wir sicher sein konnten, dass sich der Virus doch noch irgendwo eingenistet hatte. Diese Zeit der Abstinenz machte mir gar nichts aus, denn ich hatte sowieso kein Interesse an irgendeiner Form von Intimität! Wir entschieden uns dafür, das Kind zur Adoption freizugeben, um uns nicht der schwierigen Aufgabe auszusetzen, diese „personifizierte Erinnerung“ an die Vergewaltigung erziehen und lieben zu müssen. Wir trafen uns sogar einige Male mit einem netten Paar aus unserer Gemeinde, das sich sehnlichst ein Kind wünschte.

Gott schien weit weg und kaltherzig. Warum hatte er es zugelassen, dass ich in meinem eigenen Zuhause vergewaltigt wurde, während meine Kinder nebenan schliefen? Und warum hatte er es zugelassen, dass ich mein drittes Kind auf diese Art empfangen hatte, statt in der Intimität unserer Ehe, so wie Steve und ich es immer gewollt hatten? Es schien wie ein grausamer Witz. Doch Gott war da. Obwohl die Sünde gewütet hatte, war er da. Wir mussten nur daran erinnert werden, dass Gott kein „Hauruck-Reparaturdienst“ ist. Steve und ich verzweifelten beinahe – und manchmal ist es gerade diese Art purer Verzweiflung, die uns in Gottes Nähe treibt. Wir beide sind Christen. Wir kennen Gott, wir lieben ihn, wir sagen, dass wir ihm vertrauen. Aber manchmal halten wir nicht fest genug an der Tatsache, dass er der Liebhaber unserer Seele ist, bis wir vollkommen hilflos sind. Wir müssen uns darüber klar werden, dass es Opfer gibt, seit die Sünde in das Leben der Menschen eintrat. Kain ermordete Abel (1. Mose 4, 1-8), Amnon vergewaltigte Tamar (2. Samuel 12, 1-22). Aber was tun die Opfer uns ihre Familien mit ihrem Schmerz? Sind sie auf sich selbst gestellt, selbst ihre „letzte Rettung“ – oder geben sie ihn an Gott ab?

Steve und ich verließen uns zunächst nur auf unsere eigenen Ideen, indem wir versuchten, ein Leben zu verhindern, das wir das Kind des Vergewaltigers lieben können! Das redeten wir uns immer wieder ein. Uns so nahmen wir die Dinge selbst in die Hand. Doch Gott liebte uns genug, um unsere Pläne zu durchkreuzen. Mit jedem Zentimeter, den das Kind in mir wuchs, veränderten Steve und ich uns mehr. Dieses ganze Geschehnis hatte eine spirituelle Dimension, das begriffen wir schnell. Wir wurden von diesem kleinen Leben in mir völlig in den Bann gezogen und freuten uns an seinen Bewegungen, genauso wie wir uns gefreut hatten, als ich mit meinen beiden Söhnen schwanger gewesen war. Dieses Kind lebte! Was für ein Wunder, dass es dem Tod entkommen war! Uns wurde klar, dass dieses Kind in erster Linie Gott gehörte und dass es ebenso unschuldig war wie Kinder, die auf einem anderen Weg gezeugt worden waren. Und wir wurden immer erstaunter und auch beschämter darüber, dass wir je den Gedanken gehegt hatten, das Baby nicht zu behalten. Wir bereuten unser Denken und baten Gott um Verzeihung dafür, dass wir ihm so wenig vertraut hatten; dass wir die Situation an uns gerissen hatten, statt sie ihm anzuvertrauen. Und als wir entdeckten, dass es ein Mädchen werden würde, wurde sie für uns noch kostbarer. Besonders ich hatte mir immer eine Tochter gewünscht. Wir ließen den Gedanken an eine Adoption fallen.

Als Rachel geboren wurde, wurde ein Licht in unserer Familie entzündet. Wir begriffen etwas von der wahren Bedeutung der Liebe unseres himmlischen Vaters. Er betrachtet uns mit weit mehr als bloßer Akzeptanz – er umarmt uns aus vollem Herzen und nennt uns seine Kinder. „Der Geist, den Gott euch gegeben hat, ist ja nicht ein Sklavengeist, so dass ihr wie früher in Angst leben müsstet. Es ist der Geist, den ihr als seine Söhne und Töchter habt. Von diesem Geist erfüllt rufen wir zu Gott: ‘Abba, lieber Vater!’“ (Römer 8,15) In diesem Geist hat auch mein Mann Rachel als seine eigene Tochter umarmt und dazu haben wir einen weiteren wundervollen Sohn adoptiert. Heute feiern wir neun wunderbare Jahre mit Rachel, unserer einzigen Tochter. Und es kommt uns wie ein schlechter Traum vor, dass wir je in Erwägung gezogen haben, ohne dieses wundervolle kleine Mädchen zu leben. Sie ist eine stetige Erinnerung für uns – nicht an die Vergewaltigung, sondern an die überraschende Schönheit, die sich in einer Tragödie verbergen kann.

Quelle: www.weisserfriede.de/erlebt/vergew.html

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