Vom Anarchisten zum Christen.

Wie Ich Anarchist wurde
Im ersten Brief an Timotheus beschreibt der Apostel Paulus seine wechselvolle Lebensgeschichte in zwei kurzen Versen. Sie geben meinen eigenen Werdegang treffend wieder, denn wie Paulus war auch ich früher ein Feind Jesu, der durch Gottes Gnade zur Wahrheit finden durfte. Es heißt dort: »Früher habe ich ihn gelästert und seine Jünger verfolgt und misshandelt. Doch mir ist Erbarmen widerfahren; denn ich habe in Unwissenheit gehandelt, weil ich ungläubig war. Und die Gnade des Herrn hat sich überschwenglich reich an mir bewiesen; sie hat in mir jenen Glauben und jene Liebe erweckt, die sich in Christus Jesus finden« (1. Tim. 1, 13.14).
Bis zu meinem 33. Lebensjahr ging ich meine eigenen Wege und wollte von Jesus nichts wissen. Schuld daran war weniger die Begierde nach den sogenannten Freuden des Lebens, mich faszinierte vor allem die Weisheit der Welt. Mit achtzehn Jahren hatte ich schon so viel gelesen, dass für den Glauben an Gott kein Raum mehr blieb. Als Kind hatte ich Jesus wohl irgendwie liebgewonnen, doch blieb es bei einem eher unbestimmten Gefühl, weil mir niemand die wahre Bedeutung Jesu für mein Leben nahebrachte. Meine Mutter betete mit mir zwar regelmäßig Kindergebete wie:
»Ich bin klein,
mein Herz mach rein,
soll niemand drin wohnen
als Jesus allein.«
Darüber hinaus aber besaß der Glaube im praktischen Alltag meines Elternhauses keinerlei Bedeutung. Im Gegenteil, als Knabe musste ich öfters zur Belustigung meines kirchenfeindlichen Vaters auf einen Stuhl steigen und die Predigt des Pfarrers nachahmen, wofür ich dann zur Belohnung ein Geldstück bekam. Dennoch nahm ich meine Konfirmation kindlich ernst, weinte viel und nahm mir vor, meine Sünden nie wieder zu tun. Gottes Gnade hat sich treu um mich bemüht. Obwohl ich von sieben Kindern das schwächste war, bin ich allein am Leben geblieben. Von Kindheit an hatte ich das zuversichtliche Gefühl, von Gott durch viele Irrtümer hindurch endlich ganz gewiss ans rechte Ziel gebracht zu werden.
Dieses bestimmte und bestimmende Gefühl hat mich nie verlassen, auch in den dunkelsten Zeiten nicht.In meiner engeren Thüringer Heimat gab es damals leider kaum bibelgläubige Christen. Daher lernte ich erst mit achtzehn Jahren den ersten wahrhaft gläubigen Menschen kennen. Es war in Frankfurt am Main. Ich war meinem Vater entlaufen und hauste in einer Herberge zusammen mit allerlei Reisenden in einem geräumigen Schlafraum. In den langen Nächten wurde viel erzählt, und ich hörte so manches, wovon ich vorher nichts gewusst hatte. Einmal kamen wir auch auf Gott und die Bibel zu sprechen.
Das Zeugnis eines älteren gläubigen Mannes beherrschte den nächtlichen Raum. Verärgert widersprach ich ihm: »Ich glaube weder, dass die Bibel Gottes Wort, noch dass Jesus Gottes Sohn ist!« »Dann werden Sie an Ihren Sünden zugrunde gehen«, entgegnete jener Gläubige, »es sei denn, dass Gott sie durch viel Elend doch noch zum Glauben bringt. Sie werden Ihre Worte noch bitter bereuen!« Ich aber lachte nur und schlief ruhig ein.
Einen weiteren Liebeserweis Gottes erkannte ich später darin, dass er mich mit zwanzig Jahren in das Haus eines gläubigen Mannes, meines späteren Schwiegervaters, führte. Ihn mochte ich sehr, bis er eines Tages unnachsichtig forderte, ich solle alle meine schlechten Bücher vernichten. Das ärgerte mich maßlos, und in meinem Trotz entschloss ich mich, Mitglied eines Freidenkervereins zu werden. Meine Braut weinte. Doch es gelang ihr nicht, mich umzustimmen. Im Gegenteil, ich verwandte fortan jede Mark, die ich entbehren konnte, zum Ankauf atheistischer Bücher und opferte den größten Teil der Nachtruhe dem Studium der materialistischen Ideologie.
Ich war noch nicht zweiundzwanzig Jahre alt, da setzte ich eines Nachmittags den lebendigen, persönlichen Gott ab und das ewige,
unabänderliche Naturgesetz an seine Stelle. Zur gleichen Zeit begann ich in schwere Sünden zu fallen. Die Folgen waren innere Unruhe und Angst. Es tat mir seltsam weh, keinen Gott und keinen Himmel mehr zu haben. Diese Leere im Herzen trieb mich zur Sozialdemokratie, damals etwas Neuem und Revolutionärem, einer Ideologie, die den Himmel auf Erden versprach. Mit fünfundzwanzig Jahren war ich bereits sozialdemokratischer Redner und Schriftsteller. Mein Schwiegervater aber war inzwischen gestorben. Der Kummer über meinen Lebenswandel und unsere Ehe hatte ihn frühzeitig unter die Erde gebracht.
Dennoch ließ mich Gott nicht fallen. Vier Jahre hielt ich es aus unter diesen trinkenden, lärmenden Weltverbesserern, die glaubten, der Mensch werde besser, wenn seine äußeren Verhältnisse vorteilhafter und bequemer würden. Dann packte mich jedoch der Ekel über das herrsch- und rachsüchtige Treiben innerhalb der Partei, und ich fing an, die sozialdemokratische Wissenschaft in Frage zu stellen. Einer meiner Freunde, ein Redakteur, geriet über den gleichen Problemen in solche Verzweiflung, dass er keinen Ausweg mehr sah und sich erschoss. Man fand ihn in einem Raum, dessen Wände bedeckt waren mit Büchern über unsere Volksbeglückungstheorien. Wie viele »Genossen« gehörte auch er zu jenen Idealisten, die trotz ihrem zur Schau gestellten Optimismus im Innersten zerrissen und unglücklich waren.

Doch auch dieses Erlebnis brachte mich nicht zur Umkehr. Gott musste mich noch mehr in die Tiefe führen. Die Enttäuschung über die Partei warf mich völlig auf mich selbst zurück, denn eine Rückkehr zur bürgerlichen Gesellschaft kam für mich nicht in Frage. Ihre Werte und Ordnungen waren mir ebenso verhasst wie die der Partei, aus der ich nun austrat. Ein Leben in behäbiger Gleichgültigkeit aber war meiner hungernden, ringenden Seele unmöglich. Wo konnte ich nun noch Halt finden? Auch Kirche und Gläubigkeit bedeuteten mir nichts. So wurde der Anarchismus zu meiner letzten Hoffnung.
Enttäuschte Hoffnung
Ich bitte, mich jetzt nicht falsch zu verstehen: nicht alle Anarchisten tragen Bomben in den Taschen. Meine Hinwendung zum Anarchismus als Lebensphilosophie geschah wesentlich unter dem Einfluss des Kant´schen Denkens, mit dessen Hilfe ich den naturwissenschaftlichen und historischen Materialismus überwand. Kants Lehre von der sittlichen Selbstgesetzgebung des Einzelmenschen ließ in mir den Glauben reifen, jedermann müsse sein eigener Priester, Richter und Ordnungshüter werden. Ich kam zur Überzeugung, dass dadurch alle Staats-, Rechts- und Polizei-, ja jegliche Gesellschaftsordnung überflüssig würde.
Die »freie Persönlichkeit in der freien Genossenschaft« wurde mein neues Ideal, für das ich kämpfen wollte. Freilich, zwei Jahre später war auch diese Utopie im Nichts zerronnen und lag als erkannter Irrtum hinter mir. Ich hatte zur schmerzlichen Einsicht kommen müssen, dass die meisten Menschen nicht zu »freien Persönlichkeiten« taugen, sondern zeitlebens Sklaven niederer Instinkte bleiben. Und doch hatte ich gerade in Anarchistenkreisen manch ehrlich ringende Seele gefunden, die aufrichtig nach Gerechtigkeit hungerte und dürstete, wenn auch weit ab vom Wege des Lebens. Etliche von ihnen durften später wie ich den Weg zum wahren Leben finden.
Vorerst jedoch ließ mich Gottes Gnade noch den letzten notwendigen Irrweg antreten. Dieser führte von Kant über Nietzsche zur Kunst. Glaubte ich nicht mehr an die Freiheit für alle, so lernte ich nunmehr durch Nietzsche, auf die Freiheit der einzelnen »freien, sehr freien Geister« zu setzen. Das sind die Menschen, die alte hergebrachten Grenzen des Denkens und Handelns überstiegen haben und »jenseits von Gut und Böse« zu leben versuchen. Aus ihnen sollte der zukünftige, höhere Mensch, der sogenannte »Übermensch« hervorgehen. Ihr Gott ist ihr wunderbares Ich und ihr Gottesdienst das Denken und Schaffen als fröhliche Kunst.
Diesem Gottesdienst weihte ich nun meine Feder und richtete mein sich immer freier und stolzer gebärdendes Leben danach aus. Die letzten Rücksichten des alten Gewissens fielen. Auf dieser Geisteshöhe hörte jede Sünde auf, Sünde zu sein, wenn man sie nur mit dem nötigen erhabenen Selbstbewußtsein zu rechtfertigen verstand. Hier galt nur eins: Raum allem starken, mutigen Leben, denn in ihm offenbart sich das Göttliche! Die unausweichlichen Folgen dieses »hohen« Lebens waren Verrohung des Gewissens, Sünde und Sündenfolge, Zerrüttung der Nerven und schließlich totale Verwirrung.
Jesus sucht mich
Obwohl ich damals noch nichts davon wusste, war Gottes Liebe bereits in mir am Werk. Ich wurde nervenkrank und arbeits-, ja sogar denkunfähig. Das überstudierte, übernächtigte Leben mit seinen Auf- und Ausbrüchen, Enttäuschungen und Schlechtigkeiten forderte seinen Tribut. Schlaflose Nächte, schreckliche Angstzustände peinigten Leib und Seele und brachten mich an den Rand des Zusammenbruchs. So ging ein Jahr hin und eine neues brach an. »Frau«, sagte ich, »wir müssen einen neuen Abreißkalender haben, um die Tage des Elends weiterzuzählen.«
»Ich habe schon einen besorgt«, erwiderte sie und brachte mir einen frommen Neukirchener »Christlichen Hausfreund«, den sie ohne mein Wissen von einem christlichen Kolporteur gekauft hatte. Gegen meinen Willen hing nun dieser sogenannte »Hausfreund« an der Wand und mir täglich vor Augen. Jeden Tag riss ich ein Blatt ab und warf es ungelesen und zerknittert ins Kohlenfass. Was für ein widerliches Zeug! Es reizte meine schwachen Nerven. Niemals wollte ich mich daran gewöhnen, es auch nur anzusehen; das Datum brauchte ich und sonst nichts!
Aber das Leiden wuchs mir über den Kopf. Befreundete Ärzte verordneten mir Ruhe. – Ruhe!? Wo sollte es Ruhe geben in diesem wahnsinnigen Spiel ängstigender Gedanken? »Ruhe« bei diesem schauerlichen Hinabstürzen in den geistigen wie äußerlichen Ruin? Da standen die vielen hundert Bücher, aber nicht eines vermochte mich wieder aufzurichten! Was halfen mir nun Kant, Nietzsche und all das Gereime und Geschreibe meiner Lieblingspoeten? Was die philosophischen Ratschläge meiner Freunde? Was mein eigenes erarbeitetes Wissen, das jetzt auseinanderfiel wie ein gestrandetes Schiff?
Verzweifelt hielt ich das abgerissene Blättchen in Händen und – begann zu lesen: »Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von alter Sünde …« (1. Joh. 1, 7). Das »Blut«? Unfassbar! Das war ja heidnisch-jüdischer Opfergreuel! Ein Gott, der Blut sehen will …? Weg damit! Zerrissen flog das Blatt ins Kohlenfass. Und dann »Sünde«! Was bedeutete für mich schon »Sünde«? Ein leeres Wort in Anführungszeichen, etwas für altmodische Leute, ein rein relativer Begriff, ein notwendiges Schattenspiel im Weltgemälde, eine Dissonanz, die sich im Weltakkord auflöst. Jedenfalls ist es »Sünde«, so schloss ich meine Betrachtungen, im Leid zu verzagen und feige zu Kreuze zu kriechen!
An einem anderen Tag las ich: »Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler« (Jes. 40, 31). Ja, auf neue Kraft harrte ich wohl, aber nicht auf einen »Herrn«. Ich glaubte zwar wieder an einen Gott; aber den suchte ich nicht über mir, sondern in mir, in meinen Gaben, in den Sehnsüchten und Leidenschaften meiner Seele, in meinem bis zu den Grenzen des Alls ausgedehnten Ich, das sich mit allem Leben liebend eins wusste, und was dergleichen große Redensarten mehr waren. Gott gehorchen, hieß deshalb mir gehorchen. Was sollte da ein Herr »über« mir? – Aber lag nicht mein Ich bankrott am Boden?
Wo war da der Gott »in« mir? Nach langem Nachsinnen legte ich das Blättchen zu weiterer Prüfung auf meinen Schreibtisch. Doch bald griff ich wieder danach, strich entschieden das Wort »Herr« durch und legte das Blatt von neuem auf den verstaubten Tisch.
Der Kampf beginnt
Bald rang ich jeden Tag mit den Worten dieser Kalenderblätter wie mit einem gewappneten Feind, der sich mir unermüdlich entgegenstellte. Ich bestritt, durchstrich, zerriss und glaubte, ihn damit besiegt zu haben. Aber am nächsten Morgen stand mein Gegner so frisch wie ehedem vor mir, während ich zunehmend matter und unsicherer wurde. Mit täglich neuer Kraft überwand er mich, und schließlich ertappte ich mich dabei, dass ich ihm wie einem wohlmeinenden Freund zuhörte. Prüfend begann ich, die Evangelien zu lesen. Aber welch völlig veränderte Bedeutung bekamen nun die Bibelwortefür mich! Früher hatte ich Jesus lediglich als den Sozialdemokraten, Anarchisten und übermenschlichen Lebenskünstler zu sehen und zu studieren versucht.
Zum ersten Mal in meinem Leben näherte ich mich ihm jetzt mühselig und beladen. Wenn er am Ende doch mein Retter werden könnte? Wenn es gar wahr wäre, das mit dem Blut …? Bei diesem Gedanken sprang ich unvermittelt auf und holte mir aus der langen Bücherreihe Nietzsches »Antichrist« heraus. Ich wollte endlich sehen, wer recht hatte! Ich las die wohlbekannten Sätze, das Christentum sei nur für die »Schwachen, Missratenen, Überreizten, Erschöpften, die das Unglück mit dem Begriff ‘Sünde’ beschmutzten …« »Es steht niemandem frei, Christ zu werden; man wird zum Christentum nicht ‘bekehrt’ – man muss krank
genug dazu sein.« – Ich zitterte. Traf das nicht auf mich zu? Deutlich hörte ich eine spitze Stimme fragen: »Wenn du gesund wärest, würdest du dann diese Kalenderblätter lesen?«
Ich wankte und taumelte gegen einen Spiegel, starrte mein Bild an und erwartete den Ausbruch des Wahnsinns. Aber es gelang mir, mich irgendwie aufzufangen. Trotzig schleppte ich mich an einem der folgenden Abende wieder in die alte Gesellschaft. Als ich gegen Morgen heimwankte, stieß ich mit dem Fuß gegen einen Stein. Ich stieß ihn fort, stieß in meinem bedauerlichen Zustand aber ein zweites und ein drittes Mal an ihn. Dieses Stossen, der Ausdruck des Trotzes im eigenen Gewissen, war – ach, wie so oft schon! – ein Stossen gegen den Stein des Anstoßes und den Fels des Ärgernisses (1. Petr. 2, 8), gegen die im Herzen hörbare, aber noch unerkannte Stimme Jesu, des guten Hirten. Seltsamerweise musste ich den Stein aufheben und anschauen, als ob er mir etwas zu sagen habe. Da hörte ich deutlich: »Ich bin’s, der mit dir redet, Christus« (Joh. 4, 26).
»Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken« (Luk. 5, 31). Das war eine deutliche Antwort. Leider schlug sie aber nicht durch. Spiritistische und theosophische Gewohnheiten hatten mich abgestumpft und misstrauisch gemacht gegen jegliche Mitteilungen aus der Geisterwelt. Trotzdem nahm ich jenen Stein mit nach Hause, wusch ihn – es war ein weißer Kiesel – und schrieb »Joh. 4, 26« darauf. Er liegt heute noch auf meinem Schreibtisch.
Nach diesen Begebenheiten begann eine Zeit entsetzlicher Kämpfe. Es schien, als ob ich mit dem Hervorholen jenes Nietzsche-Buches einem bösen Geist Macht zum Mitreden gegeben hätte. Und dies war tatsächlich der Fall. Der Dämon war wirklich gegenwärtig! Mein »Christlicher Hausfreund« und meine Bibel ließen wohl täglich ihre friedlichen Worte hören, aber jene höhnische Stimme in mir schrie jetzt immer dagegen. In diesem Kampf wurde nicht mehr durch mich, sondern über mich entschieden! Ein schauerlicher Druck lag Tag und Nacht auf meinem Geist. Wenn ich ein wenig hinausradelte, um frische Luft zu schöpfen, so schrieen dunkle Stimmen in mir: »Fahr hinab in den Abgrund, hinunter mit dir in den Strom!
Deine Frau bekommt die Lebensversicherung ausbezahlt, gesund wirst du doch nicht wieder; du tust ein gutes Werk, stürz dich hinunter!« Es war wie Nietzsches Ruf: »Stirb zur rechten Zeit!«
Wie mich Jesus überwand
Genau zur rechten Zeit führte mich Gottes Gnade mitsamt den Meinen für eine Weile in das Elternhaus meiner lieben Frau. Dort in der Nähe wohnte ein mir bekannter Prediger, der bislang allerdings ohne Einfluss auf mich geblieben war. Diesem offenbarte ich jetzt einiges von der inneren Umwandlung und den Kämpfen, die ich durchlitt. Er schien mehr verwundert als erfreut, lieh mir aber ein kleines Büchlein, das er mir sehr empfahl: »Der Weg dem Lamme nach« von Georg Steinberger. Noch in der Straßenbahn begann ich den Inhalt dieses Heftchens begierig zu verschlingen. Zu Hause angekommen las ich es zu Ende, um sogleich noch einmal von vorne anzufangen.
Das Büchlein vollbrachte in mir ein Wunder. Es verwandelte mir Jesus von Nazareth, den vornehm-überlegenen, heroischen Weisen, in Jesus Christus, das demütig dienende, hingeschlachtete Lamm Gottes, das der Welt Sünde und auch meine Sünde ans Kreuz trug. Es bewies mir den Sieg des Schwachen und Nichtigen über das Starke und Grosse in der Welt. Es stellte mir den Lammesweg über den Löwenweg. Es weckte in mir den Leidenssinn und die Bereitschaft, »Ja« zu sagen zu meinem Elend. Mit einem Mal war mir klar, dass es Gott selbst war, der mich in diese Tiefe geführt hatte.
Er macht mich dadurch fähig, ihn als Herrn über mich anzuerkennen und mich demütig zu seinen Füssen zu werfen. Dieses scheinbar nichtige Büchlein hatte mehr vollbringen können, als all die vielen Bücher, die ich gelesen hatte, zusammengenommen! Und all das geschah unter demselben Dach, unter dem mein Schwiegervater damals meine schlechten Bücher nicht dulden wollte, unter demselben Dach, unter dem ich Gott abgesetzt und in Sünden gelebt hatte, und in demselben Zimmer, in dem mein Schwiegervater aus Gram über mein verfehltes Leben und unsere Ehe gestorben war. – »Wie unerforschlich sind Gottes Gerichte, wie unbegreiflich seine Wege!« (Röm. 11, 33).
Nun war ich im wahrsten Sinne des Wortes »bekehrt«, obgleich ich die volle Bedeutung dieser Stunden erst viel später verstand. Damals wäre mir der Begriff »Bekehrung« noch sehr widerlich und albern erschienen; ich hätte ihn niemals auf mein Erlebnis anwenden mögen. Ich wusste nur, dass ich eines mit blitzschneller Deutlichkeit erfahren hatte: Gott ist dein Vater, er hat dir durch Jesus Christus vergeben, und du bist nun in, den besten Händen. Aus dieser Erkenntnis strahlte mir ein wunderbarer Strom der Ruhe und des Friedens entgegen. Es war wie ein sonniger, warmer Frühlingshauch.
Ich lief hinunter in den Garten, staunte den Himmel, die Bäume, die Blumen an, alles frohlockte: Gott ist dein Vater durch Jesus, du bist nun in den besten Händen! Ich jauchzte laut. Es war der erste Lebensschrei der wiedergeborenen neuen Kreatur.
Wachsendes Erkennen
Langsam lernte ich, anderen von der Liebe und der Gnade meines neuen Herrn weiterzusagen, und in kleinen, zögernden Schritten fing ich auch an zu beten. Wie freute ich mich nun über scheinbar längst vergessene Liederverse und Bibelsprüche aus meinen Kindertagen! In dem Maße wie ich beten lernte, ging es auch mit meinen Nerven wieder aufwärts. Allmählich kehrte etwas Arbeitskraft zurück. Natürlich wollte ich in den alten Verhältnissen weiterwirken, nur sollte jetzt überall der Name Jesus mit hinein.
Wie aber hätte Jesus, der Gekreuzigte, in modernen Kunstblättern und Literaturheftchen Raum finden können? Wie in Theatern, Ausstellungen und Nachtlokalen? Am ehesten konnte man wohl noch in freien Vorträgen von ihm zeugen. Von Tag zu Tag wurde mir klarer, dass das neue innere Leben und der äußere Lebenskreis nicht zusammenpassten. Als ich meinem vertrautesten Freund, mit dem zusammen ich ein ganzes Jahrzehntlang gestrebt und gerungen hatte, eines Tages erklärte, ich wolle nunmehr nur noch nach der Bibel leben, kündigte er mir die Freundschaft sofort auf.
Ähnliches widerfuhr mir von allen Seiten. Dazu kamen die Versuche, mich »wieder zur Vernunft zu bringen«. Was aber konnten meine ehemaligen Freunde schon einwenden? Nicht mehr als ich selbst wusste und früher gegen den Glauben an die Bibel vorgebracht hatte. Wo aber waren Entwicklungslehre, Philosophie und Bibelkritik geblieben? Vom Geisteswehen des lebendigen, allmächtigen Gottes erfasst, waren all diese gottfeindlichen Bollwerke meiner Gedankenwelt auf einen Schlag vernichtet worden. Sie hatten jegliche Faszination verloren. Zu diesem starken Gott schrie ich in meiner Ratlosigkeit und bat ihn um einen gangbaren Weg für mein weiteres Leben.
Und Gott ließ mich nicht im Unklaren, er erhörte mich. Ich hatte in der Stadt einen Vortrag über »Zola – Ibsen – Tolstoi« gehalten und mich eben, über das Widersprüchliche meiner Tätigkeit nachsinnend, zur Ruhe gelegt. Auf einmal blieb mein Blick an einer Schrift haften, die aus der Tasche meines an der Wand hängenden Mantels ragte. Neugierig sah ich nach und las: »Lebst du in der Gegenwart Gottes?« Ein gläubiger Student, den ich damals kennengelernt hatte, musste mir diese Broschüre von einem gewissen Georg Steinberger in die Tasche gesteckt haben. Sofort schlug ich sie auf.
Noch während ich las, überkam mich eine solche Flut von lichten Gottesschauern, dass ich nachher in dem dunklen Zimmer wie in einem überirdisch erleuchteten Räume lag, und plötzlich wusste ich: »Du musst nach R. in die Schweiz zu Georg Steinberger!« Es war wie ein königlicher Marschbefehl. Schon am nächsten Abend trug mich der Schnellzug in die Schweiz.
Körperliches Unbehagen, besonders Magenkrämpfe, sowie eine satanische Lust, die Frommen zu verhöhnen, wollten mich unterwegs wiederholt von meinem Reiseziel abbringen. Als ich dennoch die Schwelle jenes christlichen Heimes in R. überschritt, kam ich mir vor wie einer, der sich lebendig hinter ewige Kerkermauern begibt. Aber ich wurde angenehm überrascht. Nichts von den Verschrobenheiten, die mir für die »Frommen« typisch schienen, war zu bemerken. Hier herrschten königliche Freiheit, praktische Natürlichkeit und eine Stille, die mir unendlich wohltat.
Zum ersten Mal in meinem Leben begegnete ich echten Christen, Menschen, die auf mich den Eindruck machten, dass sie wirklich lebten, was Jesus zu leben befohlen und vorgelebt hatte.
Durch Jesus und für Jesus
Der Aufenthalt in R. war für mich von entscheidender Bedeutung. Hätte mein forschendes Auge hier irgendwelche Spuren der verhassten Allerweltsselbstsucht oder gar der frommen Heuchelei gefunden, so wäre es höchstwahrscheinlich um meinen jungen Glauben geschehen gewesen. Aber ich fand nichts als überströmende Liebe, kindliche Gläubigkeit und wohlgefällige, biblische Lebensordnung. Das allein überwand mich, denn es zeigte mir die Kraft des Glaubens an den Gekreuzigten. Es überzeugte mich davon, dass es in dieser Welt wirklich möglich ist, ein Christ zu sein.
Daran hatte ich früher stets gezweifelt. Nie hatte ich wahrhaft christliches Leben gesehen; darum hatte ich auch nie an die christliche Lehre geglaubt. Statt dessen hatte mich die Sehnsucht nach wirklichem Leben zum Glauben an die sozialdemokratische und anarchistische Gerechtigkeit getrieben und mich schließlich an der Unerreichbarkeit des »Übermenschlichen« verzweifeln lassen.
Nun, da ich die Erfüllung meiner Sehnsucht hatte finden dürfen, richtete sich mein ganzes Denken und Trachten immer mehr auf das eine Ziel aus: Ich wollte durch Jesus und für Jesus leben. Mir erschloss sich eine wunderbare Quelle an Klarheit und Kraft. Es war mir, als könne ich daraus unendlich mehr schöpfen, als ich je zu fassen in der Lage war. Herr Steinberger, der treue Bruder im Herrn, schien meinen inneren und äußeren Zustand mit einem Blick zu übersehen. »Sie müssen Ihr ganzes bisheriges Leben und auch Ihren Beruf aufgeben«, sagte er zu mir.
»Das will ich ja, aber wovon soll ich dann leben?« gab ich ihm etwas ratlos zur Antwort. »Mein lieber Bruder, wer mit Christus lebt, muss sich darum nicht sorgen. Lesen Sie doch einmal den 23. Psalm!« »Aber ich habe Frau und Kinder, und meine Frau ist nicht gläubig. Wie soll sie mich da verstehen?«, zweifelte ich noch immer. »Das macht nichts. Beten Sie für sie! Und dann geben Sie Ihren Haushalt auf und kommen so lange zu uns, bis Ihnen der Herr zeigt, wo Sie für ihn arbeiten sollen. Er wird Ihnen ganz gewiss eine Tür öffnen. Vertrauen Sie ihm, er wird Sie nicht enttäuschen!«
»Aber bedenken Sie doch: Ich habe eine Frau, zwei Kinder und .. .« – »Ich glaube, hier gibt es nichts mehr zu bedenken«, fiel er ein. »Vertrauen Sie rückhaltlos Ihrem Herrn! Wenn er, wie in Ihrem Fall, den Weg so klar weist, was sollen dann noch Zweifel? Kommen Sie nur erst einmal zu uns.« Damit war über den nächsten Schritt entschieden. Sechs Wochen später ließen wir alles hinter uns, was bisher unser Leben ausgemacht hatte, Heimat, Freunde, Verwandte, Haus und Besitz, Arbeit und Auskommen und zogen in das Land, das Gott uns gezeigt hatte. Es dauerte nicht lange, und das leuchtende Beispiel der lieben Geschwister in R. bewirkte, dass auch meine Frau Vertrauen zum lebendigen Gott fassen konnte.
Ohne dass Menschen sie dazu besonders aufgefordert hätten, übergab sie Jesus ihr Leben. Schon wenige Monate später, nachdem mein ganzes früheres Leben vor Gott und den Menschen ans Licht gekommen war und ich darüber Busse getan hatte, durfte ich mit hinausziehen und überall im Land das Evangelium verkünden. Dass Gott mein aus Irrtum und Finsternis gerettetes Leben brauchen wollte, um auch andere vor dem Weg ins Verderben zu bewahren, trieb mich zu Dank und Anbetung. Wie viele Hunderte, die mir heute schon oder später einmal fluchen mögen, hatte ich in die Wüstenei des Atheismus und Sozialismus gelockt!
So weit ich zurückdenken konnte, war mein Leben ein Fluch gewesen; deshalb erfüllte mich nur noch der eine brennende Wunsch: »Herr, von jetzt an lass mein Leben ein Segen für viele werden!« Was der unbekannte Reisende mir damals in jener Nacht in Frankfurt vorausgesagt hatte, war eingetroffen, obgleich ich siebzehn Jahre lang nicht mehr an jenes nächtliche Gespräch gedacht hatte. Eingetroffen war auch, was mir schon von früher Kindheit an auf unerklärliche Weise sicher schien, nämlich dass mich Gottes Gnade und Barmherzigkeit durch alle Irrungen und Tiefen hindurch ans Ziel bringen werde. In Jesus Christus war er mir
nachgegangen, lange bevor ich etwas von ihm wissen wollte.
Der Gekreuzigte hatte für meine schwere Schuld bezahlt und mich zu Gott zurückgeführt. Ja, Gott ist wahrhaftig und treu. Nie mussten wir Mangel leiden, weder geistlich noch leiblich, seit wir uns seiner Führung anvertrauten. Er gab mir einen Platz, an dem ich für ihn arbeiten konnte und rüstete mich aus mit seiner Kraft, ohne die all unser Wirken für ihn fruchtlos bliebe und scheitern müsste. So ist er nicht nur der Anfänger des Glaubens, sondern auch der Vollender seines Werkes bis zu dem Tage, an dem er wiederkommen wird. Fritz Binde  [1867 – 1921 ]

Kommentare

  1. ali

    Jesus war der größte Revolutionär, in erster Linie wollte er uns Menschen zu Gott führen. Die gesellschaftlichen Veränderungen waren ein unvorstellbarer Nebeneffekt in ihren Auswirkungen.
    Das Buch dazu:

    Alvin J. Schmidt: Wie das Christentum die Welt veränderte: Menschen – Gesellschaft – Politik – Kunst, Gräfelfing: Resch Verlag, 2009, 494 S., 19,90 Euro http://www.soulbooks.de

  2. Dobble Standards

    Wenn in London Jugendliche auf die Strasse geht, weil die Vermögensverteilung von Unten nach Oben geschieht, dann ist es ein krimineller Mob und die Polizei muss hart durchgreifen und die Regierung besteht aus Konservativen und ein Liberalen.

    Wenn in den arabischen Ländern Jugendliche wegen den gleichen Gründen auf die Strasse gehen, dann ist es ihr gutes Recht und die Polizisten sind Mörder und Verbrecher und der Regierungs-Chef ist ein Diktator.
    dobble standards – Oder ?
    Wie wäre es, wenn Beide an den sozialen Zuständen ihrer Länder arbeiten würden ?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

* Ich stimme zu

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.