„Gott ist tot. Gott bleibt tot. Und wir haben ihn getötet“ – Mit diesem Satz zeichnete Friedrich Nietzsche schon im Jahr 1882 in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ nicht nur eine scharfsinnige Diagnose über die Moderne, sondern offenbarte prophetisch eine Krise, deren Tragweite wir heute deutlicher denn je erkennen: Die Entfremdung der Gesellschaft von Gott und Glauben, eine Entfremdung, die gerade der ehemals abendländisch genannten Welt zu schaffen gibt. Das religiöse Fundament, das christliche Fundament, das einst Kultur, Moral und Gemeinschaft Europas trug, scheint zusehends zu verdunsten – ein langsamer, beinahe lautloser Prozess, der sich in leerstehenden Kirchen, schwindenden Gottesdienstbesuchern und der totalen Verwahrlosung auf allen Gebieten zeigt.
Friedrich Nietzsche hatte in der „Fröhlichen Wissenschaft“ (Nr. 125) erkannt oder vielmehr erspürt, dass der „Tod Gottes“ keine zufällige Entwicklung ist, sondern eine Konsequenz des menschlichen Strebens nach Autonomie, nach der Befreiung von jeglicher Autorität und absoluter Wahrheit. Seine Worte – „Wir haben ihn getötet“ – sind dabei nicht als Triumph, sondern als Warnung zu verstehen.
„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: Ich suche Gott! Ich suche Gott!“, lässt Nietzsche rufen. Ja, der „tolle Mensch“ ist unterwegs und schreit um Gottes willen: „Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Weg von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts vom Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns?“.
Wo der Glaube an eine transzendente Ordnung erlischt, bleibt ein moralisches und geistiges Vakuum zurück. Die Einsamkeit und Verzweiflung des tollen Menschen- durch nichts können sie wirklich gefüllt werden.
Die moderne Gesellschaft des Abendlandes im Abgesang und in dieser eine sich selbst verheutlichende Christenheit scheinen diesen prophezeiten Vakuumzustand nun zu durchleben. Ohne den Blick auf das Absolute zerfällt die Einheit von Sinn und Gemeinschaft. Pluralismus, Multipolarität, Relativismus und die Loslösung von objektiven Wahrheiten verstärken den Zerfall. Und so verdunstet der Glaube nicht nur in den Kirchen, sondern auch in der Gesellschaft selbst, die daher zunehmend orientierungslos wird.
Warum ist der Glaube am Verdunsten? Ein wesentlicher Grund liegt in der Entfremdung von den Fundamenten des christlichen Glaubens. Wo einst klare Worte und „nicht verhandelbare Werte“ standen, herrscht heute Verwirrung, und wo einst der Blick auf das Ewige dominierte, hat sich eine Fixierung auf das Zeitliche eingeschlichen. Doch trotz aller Düsternis ist nun nicht alles verloren, hat der Herr der Gemeinde doch verheißen, dass er sie nicht verlassen wird und dass die Gewalten der Unterwelt und des Bösen nicht den Sieg davon tragen werden: die Gemeinde ist eine und allein gestiftet von Christus, ihr Leben ist auf die Ewigkeit hin ausgerichtet, sie lebt menschlich in der Dimension des „schon“ und des „noch nicht“ – dies gerade in der nunmehr anbrechenden Zeit der Erwartung des Kommens des Herrn.
Gott bricht in die Geschichte ein, der ewige Logos nimmt Fleisch an, er, der Gott ist von Anfang an, wird ganz Mensch. Der Opfertod Gottes am Kreuz – dem Angel-und Drehpunkt der Schöpfung – ist die universale und endgültige Gabe, zu der das Geschöpf berufen ist. Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, es war auf ihn hin gerichtet, und das Wort war Gott: der Apostel Johannes führt in das göttliche Licht hinein, denn: „das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst“.
Nun denn, inmitten des allgemeinen Niedergangs gibt es einen „kleinen Rest“ – eine Gemeinschaft von Gottgefälligen und Glaubenden, die treu zu den Fundamenten des Glaubens stehen. Sie suchen nicht nach Anpassung, sondern nach Authentizität; nicht nach weltlicher Relevanz, sondern nach ewiger Wahrheit. Dieser kleine Rest zeigt, dass die Rettung der Gemeinde Christi nicht durch äußere Reformen, sondern allein durch eine innere Rückkehr zur Quelle des Glaubens möglich ist.
Die Rettung liegt nicht in der Anpassung an den Geist der Zeit, sondern in der Rückkehr zu dem Geist, der alle Zeiten trägt: in der Rückkehr zum Königtum Christi. Der „tolle Mensch“ – er wird nicht siegen. Nach A. Sch.