Während der Schreckenszeit der französischen Revolution hatte ein Mädchen aus vornehmer Familie, dessen Eltern und Geschwister ermordet worden waren, Zuflucht bei Pfarrer Oberlin im Steintal gefunden. Aber Emilie war auch da noch nicht außer Gefahr. Ihre Flucht war bekannt geworden. Ihr Name war auf die Liste der zum Tode Verurteilten gesetzt, und die Feinde ihres Vaters ließen überall nach ihr suchen. Sie musste deshalb immer im Haus bleiben. Ja, sie durfte sich nicht einmal an einem Fenster zeigen. Aber was ist alle menschliche Vorsicht! Eines morgens früh gegen sechs Uhr sitzt Vater Oberlin in der Wohnstube. Da wird heftig an die Tür geklopft. Oberlin öffnet und – denkt euch seinen Schrecken – zwei Polizisten treten ein. „Herr Pfarrer“, sagt der eine etwas verlegen, denn er hatte vor Oberlin großen Respekt. „Herr Pfarrer, das Gericht in Strassburg hat einen Brief erhalten, darin werden Sie angeklagt, dass Sie die Tochter eines Aristokraten und Volksverräters in Ihrem Hause verbergen, die als Mitschuldige ihres Vaters zum Tode verurteilt ist. Und wir haben Befehl, Ihr Haus zu durchsuchen. Nun tun wir aber Ihnen nicht gern diese Schande an. Wir wissen, Herr Pfarrer, dass Sie nie eine Unwahrheit sagen. Wenn Sie uns deshalb Ihr Wort geben, dass Sie keine solche Person in Ihrem Hause beherbergen, so glauben wir Ihnen und gehen wieder fort.“
Oberlin dachte keine Minute daran, das Leben seiner Schutzbefohlenen durch eine Lüge zu retten. Ohne etwas von der Angst seines Herzens merken zu lassen, antwortete er den Polizisten: „Gott bewahre, dass ihr aus Gefälligkeit gegen mich eure Pflicht nicht tut, meine Freunde! Ihr habt den Auftrag, mein Haus zu durchsuchen. Nun, so tut es! Zudem sind immer Leute auf Besuch bei mir. Wer weiß, ob die Gesuchte nicht unter ihnen ist. Kommt, ich will euch den Weg zeigen!“ Damit erhob sich Oberlin und führte die Polizisten durch das Haus. Er lächelte dabei ganz freundlich, aber sein Herz schrie unablässig zu Gott. Zuletzt kamen sie auch an die Kammer, die das junge Mädchen bewohnte. „Das ist nun die letzte Stube, meine Freunde!“, sagte Oberlin, indem er die Tür öffnete und weit aufstieß. Die Polizisten waren immer verlegener geworden, je freundlicher Oberlin mit ihnen umging. Einer von ihnen trat auf die Schwelle der Kammer, schaute sich rechts und links um und sagte: „Schon gut. Es ist niemand da! Man hat Sie verleumdet, Herr Pfarrer. Wir bitten höflich um Verzeihung für die Störung, die wir Ihnen gemacht haben. Leben Sie wohl!“ Damit stiegen sie die Treppe hinab und verließen das Pfarrhaus. Wie war es gekommen, dass der Polizist das Mädchen nicht gesehen hatte? War sie etwa aus dem Zimmer gegangen? Bewahre, da wäre sie ja den Polizisten gerade in die Hände gelaufen! Oder hatte sie sich im Zimmer irgendwo versteckt?
Wie wär sie auf den Gedanken gekommen, da sie die Gefahr, in der sie stand, gar nicht ahnte? Emilie hatte die Hände gewaschen und war gerade damit beschäftigt, sich die Hände mit dem Handtuch, das hinter der Tür hing, abzutrocknen, als plötzlich Schritte ertönten und die Tür aufgestoßen wurde. Da sie noch im Unterrock war und sich schämte, halb angekleidet gesehen zu werden, blieb sie geduckt und mäuschenstill hinter der Tür stehen und rührte sich nicht, bis diese wieder geschlossen wurde. Auf so natürliche und doch wunderbare Weise rettete Gott abermals ihr Leben und half dem lieben Pfarrer Oberlin, ohne dass er sein Gewissen mit einer Lüge belastete. Bald darauf wurde der Wüterich Robespierre gestürzt, die Revolutionsgesetze aufgehoben, und damit war für Emilie die Not vorüber. Da sie keine andere Heimat mehr hatte, blieb sie in Oberlins Haus, bis sie sich verheiratete. Autor unbekannt