Das ist Feindesliebe

So KANN SIE AUSSEHEN:

ALI

Liebet eure Feinde!

In
einer Kirche in München sah ich ihn – den kahlköpfigen schweren Mann in
grauen Mantel, einen zerdrückten, braunen Filzhut in den unruhigen
Händen. Die Leute drängten aus dem Kellerraum, in dem ich gerade
gesprochen hatte. Langsam bewegten sie sich an den Stuhlreihen entlang
auf die Tür zu. Gottes Vergebung war die Wahrheit, die die Menschen in
diesem ausgebombten Land am dringendsten brauchten. Nun benutze ich in
meinen Predigten häufig Bilder, um bestimmte Wahrheiten besser zu
erklären. Und weil die See in der Vorstellungswelt eines Holländers
einen ganz beträchtlichen Raum einnimmt, hatte ich den Leuten gesagt,
Sündenvergebung bedeute, daß die Sünde ins Meer geworfen würde, und
zwar dort, wo es am tiefsten sei. "Wenn wir unsere Sünde bekennen",
sagte ich, "dann wirft sie Gott in die Tiefe des Meeres, und zwar
endgültig. Und wenn ich auch in der Bibel keinen Anhaltspunkt dafür
finde, glaube ich doch, daß Gott dort eine Boje hinsetzt, auf der
steht,: "Fischen verboten." Kein Lächeln antwortete mir. Ich blickte in
ernste Gesichter, und ich fragte mich, ob sie den kleinen Scherz
überhaupt verstanden haben. 1947 wurde in Deutschland nach einer
Predigt niemals eine Frage gestellt. Still standen die Leute auf, still
hüllten sie sich in die Mäntel und Tücher und verließen den Raum.
Und da sah ich ihn, wie er sich gegen den Strom der anderen
durcharbeitete. Man sah den Mantel und den braunen Hut, und im nächsten
Augenblick eine blaue Uniform und ein Käppi mit Totenkopf und den
gekreuzten Knochen. Da stand ich wieder in dem großen Raum mit dem
schmerzend hellen Licht; dem Haufen von Kleidern und Schuhen in der
Mitte des Raumes. Die Scham, nackt an diesem Mann vorbeigehen zu
müssen. Ich sah die gebrechliche Gestalt meiner Schwester vor mir, die
Rippen zeichneten sich scharf ab; die Haut wie Pergament. Betsie, wie
dünn bist du geworden.

Das war in Ravensbrück, und der Mann, der Mühe hatte, bis zu mir
durchzudringen, war Wärter gewesen – einer der grausamsten Wärter im
Lager.

Nun stand er vor mir mit ausgesteckter Hand. "Eine gute Botschaft,
Fräulein!" sagte er. "Wie gut ist es doch, daß, wie sie sagen, alle
unsere Sünden auf dem Grund des Meeres liegen!"

Und ich, die so eindrücklich über Vergebung gesprochen hatte,
machte mir an meinen Notizen zu schaffen, um seine Hand nicht nehmen zu
müssen. Er würde sich nicht an mich erinnern, natürlich nicht, wie
hätte er sich an eine Gefangene unter den Tausenden von Frauen erinnern
können.

Aber ich erinnerte mich an ihn und an die Lederpeitsche, die in
seinem Gürtel steckte. Ich stand vor meinem Peiniger, vor meinem
Sklavenhalter. Mein Blut erfror.

"Sie erwähnten Ravensbrück in Ihrer Predigt", sagte er. "Ich war Wärter dort."

Nein er erkannte mich nicht.

"Aber das ist vorbei", fuhr er fort. "Ich bin Christ geworden. Ich
weiß, daß Gott mir alle Grausamkeiten, die ich dort getan habe,
vergeben hat. Aber ich möchte es auch noch aus Ihrem Mund hören.
Fräulein" – wieder streckte er mir seine Hand entgegen – "können Sie
mir vergeben?"

Da stand ich nun – ich, der Sünden wieder und wieder vergeben
wurden – und konnte es nicht! Betsie war dort gestorben – konnte es
ihren langsamen, schrecklichen Tod ausradieren, einfach mit dieser
Bitte?

Es können nur ein paar Sekunden gewesen sein, daß er dastand mit
seiner ausgestreckten Hand, aber für mich waren es Stunden, denn ich
mußte mit der schwierigsten Sache fertigwerden, mit der ich es je zu
tun gehabt hatte.

Denn ich mußte es tun. Ich wußte das. Die Botschaft von der
Vergebung hat eine entscheidende Voraussetzung: daß wir denen vergeben,
die an uns schuldig geworden sind. "Wenn ihr den Menschen ihre
Übertretungen nicht vergebt", sagt Jesus, "wird auch der Vater im
Himmel euch eure Übertretungen nicht vergeben."

Das wußte ich – nicht nur als Gebot Gottes, sondern aus täglicher
Erfahrung. Seit dem Ende des Krieges unterhielt ich in Bloemendaal das
Heim für Opfer des Naziregimes, und gerade dort konnte ich es doch mit
Händen greifen: Nur die, die ihren früheren Feinden vergeben konnten,
waren in der Lage, zurückzufinden und neu anzufangen, gleich, in
welchem körperlichen Zustand sie sich befanden. Wer seine Bitterkeit
pflegte, blieb invalide. Das war ebenso einfach wie schrecklich.

Und ich stand da mit meinem kalten Herzen. Aber Vergebung ist eine
Akt des Willens, und der Wille kann ohne Rücksicht auf die Temperatur
des Herzens handeln.

"Jesus, hilf mir", betete ich leise. "Ich kann meine Hand freimachen. Ich kann das gut tun. Das Gefühl mußt du dazu tun."

Hölzern, mechanisch legte ich meine Hand in die ausgestreckte Hand
des Mannes. Als ich es tat, geschah etwas Unglaubliches. Die Bewegung
entstand in meiner Schulter, sie strömte in meine Arm und sprang in die
umschlossene hand. Und dann schien diese heilende Wärme mein ganzes
Sein zu durchfluten. Tränen kamen mir in die Augen.

"Ich vergebe dir, Bruder", weinte ich, "von ganzem Herzen." Einen
langen Augenblick lang hielten wir uns die Hände, der frühere Wärter
und die frühere Gefangene. Ich hatte Gottes Liebe noch nie so intensiv
erlebt wie in diesem Augenblick. Aber mir war auch klar, daß es nicht
meine Liebe war. Es war die Kraft des Heiligen Geistes, von dem es in
Römer 5,5 heißt: "…weil die Liebe Gottes ausgegossen ist in unsere
Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist."

Aus "Mit Gott durch dick und dünn", Brockhaus Verlag

www.soulbooks.de

Kommentare

  1. cordu

    Danke für deinen Tip, Wolfgang. Bestimmt sollte ich genau das tun. Es sind genau die Leute, denen ich noch nicht vergeben konnte, bei denen ich selbst wohl auch noch „in der Kreide“ stehe. God bless U 2 🙂

  2. andrea

    ich kann dieses buch von corrie ten boom nur jedem empfehlen, weil sie Gottes Macht am dunklen ort erlebt hat.
    Gottes Licht strahlt so hell durch ihre erzählungen.
    Wenn Menschen Gott die Ehre geben, weil sie erkennen dass sie gar nichts tun können, dann sind sie zur richtigen zeit am richtigen ort.
    Gelobt sei der Name des HERRN, der himmel und erde gemacht hat!

  3. Wolfgang

    Kleiner Tipp, überleg auch mal ob dir nicht auch jemand vergeben soll. Mal abgesehen von unserem Vater. Darum zu bitten kann ja nicht falsch sein. Ich hab mich erleichtert gefühlt, als ich meine Exfreundin darum gebeten hab und ich auch Vergebung erhalten hab. Bless u

  4. cordu

    Sehr starke Erzählung. Habe beim Lesen festgestellt, daß ich in meinem Herzen dringend ausmisten muß, um noch einigen Leuten zu vergeben. Habe die Vergebung bisher immer nur in des Vaters Hände gelegt, weil ich der Meinung war, daß ich nicht vergeben kann. Dieses Jahr werde ich diese Aufgabe in Angriff nehmen.
    Seid gesegnet

  5. Wolfgang

    Ich finde es eine sehr rührende Geschichte und kann es dieser Frau sehr gut nachempfinden. Ich meine aber, dass es für den Wärter ebenso schwer gewesen war auf sie zuzugehen wie es für sie war ihm zu vergeben. Bless u

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