Drei unvergessliche Schüsse.

Der Stützpunkt der Batterie, die Boris Rogalsky als Offizier befehligte, war in einem ausgemusterten Flugzeug eingerichtet, das auf dem Flugfeld bei Stalingrad stand. Von ihm aus beobachteten sie die endlose Kolonne der deutschen, rumänischen und italienischen Verbände, die nach der Kapitulation in die Gefangenschaft geführt wurde. Alle Soldaten, die an dem Flugzeug vorbeikamen, waren ausgehungert. Vielen von ihnen waren sogar die Hände und Füße erfroren. Der Winter 1943 war ein sehr strenger. Nicht selten sank das Thermometer auf dreißig Grad unter null. Dazu wehte ein eisiger Wind, der die gefühlte Temperatur noch kälter erscheinen ließ. Beim Anblick der vorüberziehenden, geschundenen Menschen dachte Boris manches Mal über den Sinn und Unsinn des Krieges nach. Er fand aber keine Antwort auf seine Fragen. Eines Tages hatte er sich, neben einigen seiner Leute, selbst zur Wache bei den Kanonen eingeteilt. Nachdenklich besah er sich die dahin schlurfenden, heruntergekommenen Soldaten der einst so «stolzen und siegreichen Paulus-Armee» … Plötzlich wurde er auf zwei Gefangene aufmerksam, die einen Kameraden links und rechts untergehakt hatten und ihn mit sich führten. Besser gesagt, mit sich schleiften. Den Armen in der Mitte schienen alle Lebenskräfte verlassen zu haben. Er zog die Beine nach, als seien sie ihm eine Last, und er konnte den Kopf immer nur für Sekunden hoch halten. Verständlicherweise kamen die drei nur mühsam voran und hielten alle Nachfolgenden im Marsch auf. Mit einem Mal kam einer der russischen Begleiter auf Boris zu und sagte, während er zu der Dreiergruppe zeigte: «Der in der Mitte ist schwach geworden. Er schafft es nicht mehr bis zur nächsten Bahnstation.» Boris stimmte ihm zu und nickte. «Man sollte ihn schneller sterben lassen, ihm das Sterben leichter machen», fuhr der Begleiter fort. Boris zuckte unschlüssig mit den Schultern. Einer seiner Männer war jedoch entschlossener und gab dem Begleiter recht. Der fragte nicht mehr weiter, winkte die Dreiergruppe heran, übergab den Erschöpften an Boris und seine Leute mit den Worten: «Erledigt ihr es. Ihr unterliegt keiner so strengen Munitionsrationierung wie wir. Ihr könnt ihn dann auch im Schnee verscharren.» Noch bevor Boris etwas entgegnen konnte, hatte sich der Begleiter mit den beiden Gefangenen wieder zur Kolonne gesellt und zog mit ihr davon. Boris und seine Leute sahen sich schweigend an. In ihren Blicken stand die Frage: «Was machen wir jetzt?» «Es ist wohl das Beste für ihn, wenn wir so verfahren, wie der Begleiter sagte», brach einer der Artilleristen das Schweigen «Willst du ihn erschießen?», fragte ein anderer. «Ich? Nein, auf keinen Fall!», meinte der zweite. «Ich auch nicht.» Boris blickte langsam in die Runde. Er sah jedem ein-dringlich ins Gesicht und erkannte, dass alle seine Männer vom Schießen und Töten die Nase voll hatten und keiner bereit war, das Leben dieses Häufleins Elend namens Mensch auszulöschen. Der Koch, der bisher noch wenig Kriegserfahrung gesammelt hatte, erfuhr irgendwie von der Sache, kam herbei und bot sich an, den Deutschen zu erschießen . Alle in der Runde waren erleichtert, dass sie diese Tat nicht ausfuhren mussten, und beobachteten den Feldküchenchef, wie er seine Pistole zur Hand nahm und lud. Als der Koch auf den Soldaten zutrat, bat der um etwas. Was er genau wollte, verstanden die Umstehenden nicht, sie bekamen nur so viel mit, dass er noch beten wollte. Boris, der wie alle Russen den letzten Wunsch eines Sterbenden für etwas Heiliges hielt, erlaubte es ihm. Der Deutsche kniete nieder und betete einige Minuten lang. Dann ließ er den Kopf auf die Brust sinken und hob die rechte Hand zum Zeichen, dass er jetzt zum Sterben bereit war. Der Koch ging entschlossen auf ihn zu, hielt ihm die Pistole an die Schläfe und drückte ab. Es machte klick, aber der Schuss ging nicht los. Die Männer sahen sich erstaunt an und vermuteten, dass der Koch mit dem Rührlöffel wohl besser umzugehen verstehe als mit der Waffe. Der Koch begutachtete die Pistole, konnte aber keine Fehler feststellen. Vorsorglich nahm er die alte Patrone heraus und warf sie in den Schnee. Eine neue Patrone aus dem Magazin lud nach. Nun hielt er die Waffe dem Deutschen wieder an die Schläfe. Doch als er abdrückte, geschah das Gleiche wie vorher: Der Schuss ging nicht los!Das Erstaunen der Männer wurde grösser und der Koch unsicher. Wieder prüfte er die Waffe, ohne einen Fehler feststellen zu können, und lud sie mit einer neuen Patrone. Aber auch der dritte Tötungsversuch schlug fehl. «Halt! Aufhören!», befahl Boris in energischem Ton. Dann gingen die Männer zum Koch, nahmen ihm die Waffe aus der Hand und kontrollierten sie eingehend. Auch sie fanden keinen Schaden. Jetzt ordnete Boris an, den Waffentechniker zu holen. Als der erschien und die Pistole sah, versicherte er, dass sie zu den störungsfreiesten Fabrikaten zähle und unmöglich nicht funktionieren könne. Die Soldaten standen noch so unter dem Eindruck des eben Erlebten, dass sie auf keine lange Diskussion aus waren, und forderten den Techniker auf, die Waffe anzusehen. Der nahm sämtliche, sich in der Pistole befindlichen Patronen heraus, hob die alten, die vorher nicht losgegangen waren, vom Schnee auf, legte sie wieder ein und richtete die Waffe nach oben. Dann drückte er dreimal ab — und dreimal wurde die Stille von einem lauten Schuss zerrissen! Die Soldaten waren geschockt. Sie hatten in diesem Krieg schon viel erlebt, sehr viel sogar, aber so etwas noch nicht. Für Boris stand fest, dass hier eine Macht am Werk war, die den deutschen Soldaten noch nicht sterben lassen wollte. Er behielt seine Oberzeugung aber für sich, weil er nicht wusste, wie die anderen reagieren würden, wenn sie erfuhren, dass ihr Vorgesetzter solche Gedanken bewegte. Er ordnete an, dass der Deutsche in das Flugzeug gebracht wurde, das ihnen als Stützpunkt diente. Hier rieben sie den Soldaten, der einige Erfrierungen erlitten hatte, mit Spiritus ein. Dann reichten sie ihm ein heißes Getränk und betteten ihn neben den warmen Ofen. Nicht lange und der Arme war eingeschlafen. Im Gegensatz zu ihm fand Boris in dieser Nacht nur wenig Schlaf. Er hatte immer wieder das Geschehen um den deutschen Soldaten vor Augen und kam sich zum ersten Mal in seinem Leben ganz winzig und wertlos vor … Was war er gegenüber der Macht, wie er sich ausdrückte, die das Leben und Sterben eines Menschen in Händen hatte und der er heute so spürbar begegnet war? — Diese Macht, die selbst Schüsse blockieren konnte, musste Gott sein! Langsam faltete er die Hände auf der Brust und befahl sich diesem großen Gott an, der zwar nicht sichtbar, aber doch allgegenwärtig war und überall eingreifen konnte. Am nächsten Morgen brachten sie den deutschen Soldaten in ein Feldlazarett. Und Karl Stief, wie er hiess, kam mit etwa dreißig Jahren 1948 wieder in seinen Heimatort Sulzbach Rosenberg in der Oberpfalz zurück. Hier legte er in der Gemeinde sein Erleben als glaubenstärkendes Zeugnis ab. Am 3. Januar 1983 hat ihn dann Gott der Herr zu sich in die Ewigkeit gerufen. Quelle..Ethos

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