Dreimal wird Jesus vernommen. Dreimal hat er die Gelegenheit, sich zu verteidigen. Vor Kaiphas, Pilatus und Herodes könnte er die größten Reden seines Lebens halten. Aber er bleibt stumm.

Ist möglicherweise ein Doodle von ‎Herz und ‎Text „‎Sei gesegnet in Jesus Christus heiligen Namen. In ihm ist alles I was die Seele braucht. 7س‎“‎‎

Zwischen der Gefangennahme von Jesus und seiner Kreuzigung passiert so viel, dass manche Theologen von einer mehrtägigen Prozessdauer ausgehen. Erst die Verhandlung vor dem Hohen Rat, dann der Prozess bei Pilatus, daraufhin die Begegnung mit Herodes Antipas, schließlich das Urteil und am Schluss die Kreuzigung um 9 Uhr morgens, dazwischen Gespräche, Fußmärsche, Unterbrechungen: Ist das nicht zu viel «Action» für einen Zeitraum von kaum mehr als sechs Stunden?

Nicht unbedingt.

Die Berichte der Evangelisten deuten auf einen sehr raschen Verlauf der Ereignisse. Mit meiner Chronologie schließe ich mich ihnen und der christlichen Tradition an.

Der Menschenzug mit dem gefesselten Jesus setzt sich in Bewegung. Traditionell wird davon ausgegangen, dass der Jesus-Prozess im römischen Militärhauptquartier stattfand. Die Burg Antonia verdankt ihren Namen dem Cleopatra-Geliebten und Augustus-Rivalen Marcus Antonius. Herodes der Große hat sie nach ihm benannt, als dieser in Rom noch nicht in Ungnade gefallen war. Jetzt sind hier die römischen Truppen stationiert, die zum Passafest aufgestockt worden sind. Etwa zweitausend Soldaten. Sie sollen für Sicherheit sorgen. (…)

Die Sonne ist gerade aufgegangen, als Jesus und seine Ankläger bei Pilatus ankommen.

Von dem Statthalter kann Jesus keine Milde erwarten. Er ist berüchtigt dafür, Menschen sogar ohne vorherigen Prozess hinrichten zu lassen. Warum soll er zögern, einen Mann zu kreuzigen, den sogar die Juden für zu gefährlich halten? (…)

Es ist sieben Uhr morgens, als ein Sklave zu Pilatus kommt und ihm prominenten Besuch anmeldet: Der Hohepriester warte mit einer größeren Delegation im Vorhof. Es soll dringend sein.

Pilatus will sie hereinrufen lassen. Aber der Hohepriester besteht darauf, dass Pilatus zu ihnen nach draußen kommt. Er will sich während der Passafeierlichkeiten nicht durch die Anwesenheit in einem Heiden-Haushalt verunreinigen.

Pilatus kann seinen Groll kaum unterdrücken. Zweimal ist er mit dem gerissenen Hohepriester aneinandergeraten, einmal beim Skandal um die aufgestellten Tiberius-Schilder, dann beim Streit um einen Bauzuschuss aus dem Tempelschatz. Und immer hat Kaiphas sich durchgesetzt. Pilatus hat keine Ahnung, was Kaiphas diesmal von ihm will. Wahrscheinlich sich darüber beschweren, dass römische Soldaten sich danebenbenommen haben. Vielleicht will er auch um die Freilassung von Bar Abbas bitten.

Wenig später steht Pilatus vor einem Juden mit blutigen Lippen und verquollenen Augen. «Er ist ein galiläischer Aufrührer», erklärt Kaiphas, «wir liefern ihn dir aus, damit du ihn hinrichtest. Er heißt Jesus.» (…)

«Was hat er denn Schlimmes getan?», hakt Pontius nach.

«Er hetzt das Volk gegen die Römer auf!»

Pontius kann kaum ein sarkastisches Schmunzeln unterdrücken. Als ob nicht die meisten Juden die Römer insgeheim zum Teufel wünschten.

«Er fordert die Leute auf, keine Steuern mehr zu zahlen.»

Das ist schon schwerwiegender, aber auch nichts, was zwingend die Todesstrafe nach sich ziehen müsste.

«Er bezeichnet sich als König der Juden.»

Der Statthalter inspiziert den mittelgroßen Galiläer, der vor ihm steht. Mit seiner bescheidenen Bekleidung erweckt Jesus kaum den Eindruck, als würde er royalistische Ambitionen hegen.

Alles klar! Pilatus kapiert, worum es hier geht. Kaiphas will eine private Rechnung begleichen und jemanden abservieren lassen, der ihm selbst gefährlich geworden ist. Aber da kann er lange warten. Pilatus hat keinerlei Veranlassung, Kaiphas diesen Gefallen zu tun. Als römischer Statthalter hat er schließlich gar nichts davon. Diesen Jesus hinzurichten, könnte genau die Unruhen auslösen, die Pilatus unbedingt vermeiden will. Und außerdem bietet sich für Pilatus die Gelegenheit, Kaiphas die erlittenen Demütigungen heimzuzahlen.

Pilatus genießt es, den Hohepriester zappeln zu lassen. Seine Motivation lässt sich in einem Satz zusammenfassen, den der jüdische Philosoph Philo ein paar Jahre später über ihn niederschrieb: «Er war nicht gewillt, irgendetwas zu tun, das seinen jüdischen Untertanen gefallen hätte.» Schon aus Prinzip will Pilatus das Gegenteil von dem, was Kaiphas wünscht.

Kaiphas ist irritiert. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Ausgerechnet Pilatus, der harmlose Juden wegen jeder Nichtigkeit über die Klinge springen lässt, besteht jetzt auf einen fairen Prozess? Hm …

Was nun passiert, ist ein diplomatisches Geschachere, bei dem Jesus eine Statistenrolle zukommt. Die Hauptakteure in dem perfiden Spiel heißen Pilatus und Kaiphas.

Pilatus wendet sich Jesus zu. Er verhört ihn. Vermutlich auf Griechisch: «Haben deine Ankläger Recht? Stimmt es, dass du dich als König der Juden bezeichnest?»

Jesus antwortet so kurz und knapp wie vorhin dem Hohepriester: «Du sagst es.»

«Hetzt du die Leute auf? Sollen sie keine Steuern mehr zahlen? Bist du ein Feind Roms?»

Jetzt schweigt Jesus.

Pilatus wird ungeduldig: «Was ist? Willst du dich nicht verteidigen?»

Schweigen.

Für Pilatus wird die ganze Angelegenheit immer dubioser. Jeder andere Mann an der Stelle von Jesus würde hysterisch die eigene Unschuld beteuern. Wer ist dieser Kerl, der die offensichtlich haltlosen Vorwürfe nicht zurückweisen will? Pilatus baut Jesus jede Brücke, gibt ihm jede Möglichkeit, sich herauszureden. Aber Jesus nimmt das Angebot nicht an. Es scheint fast, als hätte er sein Todesurteil schon innerlich akzeptiert.

Im Johannes-Evangelium wird berichtet, dass Jesus sein Schweigen noch einmal bricht. «Mein Reich ist nicht von dieser Welt», erklärt er Pilatus. Damit deutet er an, dass von ihm keine unmittelbare politische Gefahr ausgeht. Gleichzeitig nimmt er für sich in Anspruch, dass er ein Herrscher ist und über ein Königreich regiert. Damit ist er Pilatus, der mehrere Vorgesetzte über sich hat, weit überlegen.

Pilatus kann die nonchalante Art, mit der Jesus sich verteidigt, nicht nachvollziehen. «Weißt du nicht, dass ich die Macht habe, über dein Schicksal zu entscheiden?» Sein Satz erinnert an die Verlockungsworte des Teufels: «Alle Macht über diese Welt will ich dir verleihen, denn sie ist mir übergeben, und ich schenke sie, wem ich will.»

Genauso wenig wie in der Wüste geht Jesus jetzt auf die Versuchung ein: «Die Macht, die du hast, hast du dir nur geliehen», sagt er zu Pilatus. «Ich bin zwar ein König. Ich bin Mensch geworden und in diese Welt gekommen, um ihr die Wahrheit zu bezeugen. Wer sich von der Wahrheit bestimmen lässt, der hört auf mich.»

König? Mensch? Wahrheit? Pilatus raucht der Kopf. Ihm ist das alles zu theoretisch. Er zuckt mit den Achseln. «Wahrheit – was ist das überhaupt?»

Mit dieser Gegenfrage gibt er einen Einblick in seine eigene Gedankenwelt, die frei von höheren Idealen ist. Pilatus ist ein Vertreter derselben Geistesströmung, die auch heute so populär ist. Er ist ein Relativist, der die Dinge nach ihrem Nutzen bewertet. Wahrscheinlich hat er eine epikureische Lebensphilosophie. Wahrheit hält er für eine Frage des Standpunkts. Während die Priester-Elite Jesus mit Hass und Neid begegnet, steht Pilatus ihm gleichgültig gegenüber – und ist damit genauso weit vom Guten entfernt wie die aktiv Bösen.

Pilatus knöpft sich die Ankläger vor: «Ihr müsst mir schon Beweise liefern. Was konkret hat dieser Jesus in den letzten Tagen verbrochen?»

«In Jerusalem noch nichts», gibt der Hohepriester zu, «bisher hat er vor allem die Leute in Galiläa aufgehetzt. Aber jetzt fängt er auch hier damit an!»

«Galiläa, ach so.» Pilatus lehnt sich entspannt zurück. Er weiß, dass Herodes Antipas sich in Jerusalem aufhält. Soll doch der Viertelfürst den heiklen Fall übernehmen.

Pilatus befiehlt seinen Soldaten, Jesus zum Tetrarchen zu führen. Zum Hohepriester sagt Pilatus: «Wenn Herodes bestätigt, dass Jesus ein Terrorist ist, dann kann ich ihn hinrichten lassen. Sonst sehe ich keinen Grund.» (…)

Herodes interessiert sich nicht für die konkrete Anklage. Er weiß, dass Jesus kein Zelot ist. Er will lieber dessen Wunderkraft in Aktion sehen, das Brotkunststück zum Beispiel.

Aber Jesus tut nichts dergleichen. Der «Fuchs», wie Jesus ihn genannt hat, löchert ihn mit Fragen. Jesus reagiert wie schon bei Pilatus mit Schweigen. (…)

Die Wortlosigkeit des Messias fasziniert bis heute. Dreimal hat er die Gelegenheit, sich zu verteidigen. Vor Kaiphas, Pilatus und Herodes könnte er die größten Reden seines Lebens halten. Aber er bleibt stumm. Unter dramaturgischen Gesichtspunkten ist seine Wortlosigkeit nicht nachvollziehbar. Kein Dichter würde sich die Chance entgehen lassen, einen ausführlichen Schlagabtausch zwischen Jesus und seinen Gegnern zu schildern.

Doch Jesus bleibt sich bis zuletzt treu. Er wirft keine Perlen vor die Säue, verschwendet keine Energie an kalte Herzen. Er predigt jahrelang unter freiem Himmel vor gesellschaftlichen Randexistenzen, um nun in den Villen der Prominenten zu verstummen.

Redselig sind alleine Kaiphas und seine Getreuen. Sie listen vor Herodes die alten Anschuldigungen auf: «Er nennt sich König der Juden!»

Herodes zuckt innerlich zusammen. Das ist der Titel, nach dem er und seine neue Frau Herodias sich mehr als alles andere sehnen. Das weiß auch die Entourage des Herodes. Die Diener nutzen die Chance, sich bei ihrem Herrn einzuschmeicheln. Sie werfen Jesus einen Umhang von Herodes über, purpurfarben, wie es sich für einen Aristokraten gehört, und verspotten ihn mit «O König! O König!»-Huldigungsrufen. (…)

Herodes lacht, klopft Sprüche, die von seinen Höflingen wiederum eifrig beklatscht werden.

Dann hat Herodes genug. Er schickt Jesus zurück zu Pilatus. Sein «Verhör» hat kein neues belastendes Material zutage gebracht. Es wird immer offensichtlicher, dass die Anklage des Kaiphas auf tönernen Füßen steht.

Pilatus freut sich. Diesmal hat sich Antipas auf seine Seite und gegen Kaiphas gestellt. «Herodes und Pilatus waren vorher miteinander verfeindet gewesen», stellt der Evangelist Lukas nüchtern fest, «aber an diesem Tag wurden sie Freunde.»

Was für eine Ironie liegt in dieser Konstellation! Die Repräsentanten der weltlichen Gewalt sind von der Harmlosigkeit Jesu überzeugt, ja, hätten ihn sogar laufen lassen. Es ist das religiöse Establishment, das Jesus unbedingt am Kreuz krepieren sehen will.

Der Spielball liegt nun wieder im Feld des Pilatus. Er hat immer weniger Lust, dem Wunsch von Kaiphas nachzukommen. Seine eigene Frau hat ihm davon abgeraten. Sie hat einen Albtraum gehabt und ist sich sicher, dass es dabei um diesen Jesus ging. Sie bittet ihren Mann: «Mach dir an diesem Unschuldigen die Finger nicht schmutzig!»

Pilatus hat eine Idee, wie er das Verfahren abkürzen und Jesus freibekommen kann. Er hatte ohnehin beabsichtigt, wie in jedem Jahr anlässlich des Passafestes einen Gefangenen zu begnadigen. Als Geste der römischen Großzügigkeit. (…)

Aber Kaiphas hat unterdessen dafür gesorgt, dass sich nur linientreue Juden im Burghof aufhalten. Als Pilatus die Frage stellt: «Wen von beiden wollt ihr?», schallt ihm ein lautes «Bar Abbas» entgegen. Die Pseudo-Volksabstimmung geht für den Terroristen und gegen den Friedensbringer aus. (…)

Pilatus will noch immer kein Todesurteil sprechen. Er bietet einen Kompromiss an: Jesus schwer zu foltern, aber ihn nicht zu exekutieren. Er lässt Jesus bis auf das Untergewand ausziehen, lässt ihn geißeln.

Bei dieser schrecklichen Tortur wird Jesus zunächst an einen Pfosten gebunden. Dann dreschen zwei Soldaten abwechselnd auf seinen nackten Rücken ein, mit Lederpeitschen, die mit spitzen Knochen und Nägeln versehen sind. Dabei verwandelt sich der Rücken von Jesus in eine blutige Masse. Ganze Fleischstücke werden herausgerissen, die Haut in Fetzen geschlagen.

Viele Menschen sterben bei dieser Tortur. Aber Jesus, der durchtrainierte Wanderer, hat eine robuste Kondition. Er bettelt nicht: «Aufhören!» Er nimmt die Qualen hin. Das stachelt den Sadismus der Soldaten noch mehr an. Sie pressen Jesus eine aus Dornen geflochtene Krone auf die Stirn, bis das Blut daraus fließt, drücken ihm einen Stock in die Hand, ähnlich einem Zepter, werfen ihm den purpurnen Mantel von Herodes um, knien vor ihm nieder: «Sei gegrüßt, König der Juden.»

Das müsste doch reichen, denkt sich Pilatus. Er lässt Jesus vor den Hohepriester und dessen Gefolge stellen und ruft: «Ecce homo! Guckt euch doch diesen Menschen an!» Wenn selbst die Römer am Passafest einen Terroristen wie Bar Abbas verschonen, dann kann der Hohepriester doch schlecht auf einem Todesurteil bestehen.

Doch Kaiphas will noch mehr Blut sehen.

«Kreuzige ihn!», skandieren er und seine Gefolgsleute.

Noch immer zögert Pilatus. Schließlich ist er der mächtigste Mann im Staat. Er bestimmt hier über Leben und Tod. Er beschließt: «Ihr könnt fordern, was ihr wollt. Ich werde kein unschuldiges Blut vergießen.»

Kaiphas zischt: «Ich nehme die Verantwortung auf mich. Das Blut dieses Mannes kann ruhig über uns und unsere Nachkommen kommen.»

Pilatus bleibt stur: «Ich werde diesen Jesus nicht kreuzigen.»

Kaiphas fährt sein schwerstes Geschütz auf: «Dann bist du kein Freund des Kaisers.» Dahinter steckt die Drohung: Wir werden dich bei Tiberius denunzieren, dich als Freund von Radikalen bloßstellen.

Damit hat Kaiphas den wunden Punkt bei Pilatus getroffen. Als illoyal denunziert zu werden, kann Pilatus sich nicht leisten. In Rom rollen gerade reihenweise die Köpfe von Staatsdienern, die dem Regierungschef Sejanus in die Quere kommen. Pilatus muss um jeden Preis vermeiden, dass er in Ungnade fällt.

Ein letzter, nun schon kläglicher Versuch: «Ich soll tatsächlich euren König kreuzigen lassen?»

«Wir haben keinen König außer dem Kaiser!» Kaiphas ist es egal, dass er sich damit aufs Tiefste erniedrigt. So groß ist sein Hass auf Jesus, dass er sich verbal vor den Römern in den Staub wirft.

Pilatus gibt auf. Er lässt sich eine Schüssel mit Wasser bringen. Er taucht seine Hände ein, bevor er das blutige Geschäft in Auftrag gibt: «Ich wasche meine Hände in Unschuld.» Dann steht er auf und verhängt das grausame Urteil: «Ich verurteile dich zum Tod am Kreuz.»

Er macht auf seinen Absätzen kehrt und zieht sich in seine Gemächer zurück. Auch Kaiphas und seine Gefolgsleute ziehen ab.

Die Ungerechtigkeit hat scheinbar gesiegt.

Allerdings werden die drei Hauptbeteiligten der größten Justizfarce aller Zeiten doch noch bestraft, wenn auch einige Zeit später. Sechs Jahre nach der Kreuzigung wird Pilatus seines Amtes enthoben, Kaiphas vom neuen Statthalter gefeuert, Herodes vom römischen Kaiser nach Gallien verbannt, nachdem er erneut vergeblich versucht hat, zum König ernannt zu werden. Der Chef der Tempelpolizei, die Jesus verhaftet hatte, wird erst Hohepriester und dann auf Betreiben eines römischen Statthalters ermordet.

Dass man sich überhaupt noch an sie erinnert, verdanken sie alle nur dem Gekreuzigten.

Leicht gekürzter Auszug aus:
Markus Spieker, Jesus. Eine Weltgeschichte. Fontis Verlag. TE

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

* Ich stimme zu

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.