"Leid und Tod – Und wo ist Gott?" halten. Warum möchten Sie gerade über dieses Thema dozieren?
Dr. Spieß: Also, zunächst einmal bin ich dazu eingeladen worden, über dieses Thema zu sprechen. Ich habe es mir nicht gewünscht. Und dann ist dieses Thema eines der wichtigsten überhaupt, weil es jeden Menschen betrifft. Jeder macht Leiderfahrungen. Ich selbst habe auch welche gemacht, zunächst einmal die, die jeder macht und vor einigen Jahren habe ich leider sogar meine erste Familie, Frau und Kind, durch einen Verkehrsunfall verloren und lange Zeit selbst im Krankenhaus verbracht. Leiderfahrungen, da ist wohl jeder Mensch Experte darin. Die Frage nach dem Leid hat mich schon oft beschäftigt und ich habe viel versucht, darüber nachzudenken. Meine eigenen Erfahrungen haben das Ganze dann noch zusätzlich reifen lassen.
"Leiden", was bedeutet das eigentlich genau?
Dr. Spieß: Das deutsche Wort "leiden" hängt mit dem mittelhochdeutschen Wort "lidan" zusammen, was "in die Fremde ziehen" bedeutet. Und das Wort "elend" heisst "ausser Landes sein". Beide Male weisst das Wort für Leiden darauf hin, dass der Mensch , der gerade Leid empfindet, den Eindruck hat, er sei fremd.
Denn das Hauptproblem im Leiden ist die Sinnfrage. Nicht, dass man leidet, sondern, dass man es für sinnlos hält, selbst wenn man im Nachhinein darin Positives entdeckt. Die Bibel sagt dazu, dass wir uns beim Leiden tatsächlich in der Fremde befinden, in einer von Gott getrennten Welt. Es ist der Hinweis darauf, dass wir nicht in einer Welt leben, die für uns geschaffen ist. Wir haben uns von Gott losgelöst und müssen deshalb die Erfahrung der Fremdheit machen. Interessanter Weise auch dann, wenn man nicht leidet. Manchmal erfährt man beispielsweise eine "Melancholie der Erfüllung", wenn man mit Menschen zusammen ist, mit denen man sich eigentlich sehr gut versteht, aber dann doch so große Differenzen untereinander entdeckt, dass man sich zur Einsamkeit getrieben fühlt. Oder man macht die Erfahrung, aktiv oder passiv an anderen schuldig zu werden. Das alles sind Fremdheitserfahrungen von uns in dieser Welt.
Sie schreiben: "Wir sind interessiert an der Beendigung des Leidens, Gott aber möchte die Beendigung des Ursprungs des Leidens". Woher kommt denn das Leid ihrer Meinung nach?
Dr. Spieß: Die Bibel sagt, dass das Leiden mit der Trennung des Menschen von Gott zusammenhängt. In 1.Mose 3 beschreibt die Geschichte des Sündenfalls, dass der Mensch sich aus der Gemeinschaft mit Gott herausgesündigt hat und dass von da an Leid und Tod Zugang zur Welt des Menschen hatten. Paulus erklärt dazu im neuen Testament, dass der Tod der Sünde Sold ist. Der Sünde Sold ist eine negative Belohnung, die Strafe für die Sünde.
Man kann ausserdem sagen, dass der Mensch ein abgeleitetes Wesen ist. Er hat das Leben nicht um seiner selbst Willen, sondern er ist von Gott geschaffen. Die Sündenfallgeschichte sagt, dass der Mensch sich aus dieser Gemeinschaft mit Gott herausgesündigt hat und dadurch sterblich wurde. Da Leiden und Tod eng zusammenhängen, kam beides in unsere Welt.
Wenn wir an Leiden denken, wünschen wir uns, dass es aufhört. Das ist ein elementares Interesse des Menschen. Nach der Bibel ist es aber auch verständlich, den Ursprung des Leides, die zerstörte Beziehung zu unserem Schöpfer, zu bekämpfen, damit unsere Beziehung wieder in Ordnung kommt. Im Neuen Testament heilt Jesus zwar Leidende und seine Macht über das Leid ist wohl auch etwas sehr Wichtiges, aber wir sollten nicht vergessen, dass die von Jesus geheilten Menschen später irgendwann auch gestorben sind. Denn Christi Heilen war nur ein vorläufiges und zeichenhaftes Heilen. Ein bekannter Theologe hat dazu geschrieben: "Die Heilungen Jesu waren ein Appettitanreger für die neue Welt Gottes." Es wird den Moment geben, indem Jesus in der neuen Welt Gottes sagen wird, "Steh auf!", und dann werden wir wirklich aufstehen und nie mehr sterben müssen. Die Heilungswunder unserer Welt aber sind in jedem Fall immer nur vorläufig.