Sei bitte nicht traurig, wenn du “nur” die zweite Geige spielst.

Wenn der Wind günstig weht, trägt der Lufthauch den Klang von zwei Violinen deutlich zu mir herüber. Die eine führt mit hellem Ton die Melodie, die zweite, von dunklerer Färbung, begleitet mit tiefem, weichem Klange. Unwillkürlich folgt mein Ohr den Linien der führenden Stimme, und erst wenn die unscheinbare zweite mal verstummt, wird man gewahr, daß etwas fehlt! Die zweite Geige hat mich nachdenklich gemacht.

Es gibt im Leben viel mehr Menschen, denen aufgetragen ist, die „zweite“ Geige zu spielen als die erste, so gewiß das Zurücktreten schwerer als das Hervortreten ist. Denn da ist immer die häßliche Frage: „Warum stehe ich nicht oben?“ so schnell bei der Hand: und der Neid ist wie ein böser, scharfer Zugwind, der die Saiten unseres Instruments arg verstimmt. Da heißt es schnell wieder rein stimmen.
Ja, es sind seltene, feine Leute, die echten Künstler von der zweiten Geige. Sie haben stille Augen und ernste Züge; sie haben sich durch Demütigung zu viel höherer Reife führen lassen, als sie sonst erlangt hätten.
Einst werden wir alle gar nicht mehr daran denken, ob wir die erste oder letzte Geige spielen, sondern nur voll tiefen Dankes gewahr weiden, daß auch unser armes, kleines Instrument mittönen darf in der großen, wundervollen Jubelsymphonie: „Ehre sei Gott in der Höhe!“

aus: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1948 (Gerald Born)

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