„Leiden“ kommt vom mittelhochdeutschen „lidan“ und heißt eigentlich „in die Fremde ziehen“. Das ist sehr interessant: Leiden hat etwas mit „fremd sein“ zu tun; „Elend“ heißt „außer Landes sein“. Der leidende Mensch hat den Eindruck: Das ist nicht die Welt, für die ich eigentlich geschaffen bin. Meine Heimat ist irgendwo anders.
Die Frage nach Gott und Leid ist eine zutiefst christliche Frage. Nur wer etwas davon gehört hat, dass es einen Gott gibt, der die Menschen liebt, der kann sich die Frage stellen: Warum ist so viel Leid in der Welt? Ohne Gott – wenn man die Welt einfach als Produkt von Unfall, Zufall oder Notwendigkeit sieht – wen will man für das Leid anklagen? Eigentlich kann man nur über das Leid klagen oder jemand anklagen, wenn hinter dieser Welt tatsächlich ein persönlicher Gott steht. Ein Gott, der diese Welt geschaffen hat, den man auch anklagen kann.
Schon in der Antike hat ein Philosoph gesagt: Wenn es keinen Gott gibt, woher kommt dann das Gute? Wenn es aber einen Gott gibt, woher kommt dann das Böse? Diese Frage hat Menschen aller Zeiten bewegt.
Wenn Menschen über das Leid nachdenken, dann fragen sie: Wie kann man im Leid oder trotz des Leides weiterleben? „Trost“ hängt zusammen mit dem englischen „to trust“ und heißt vertrauen. Wie kann ein Mensch im Leiden Vertrauen fassen, so dass er Schritte nach vorne wagen kann? Wie kommen wir zu einem solchen Trost? Für die meisten Menschen, auf
Dauer für jeden, ist Leiden ein existentielles, weniger ein intellektuelles Problem. Natürlich kann eine intellektuelle Erklärung des Leides auch eine existentielle Hilfe sein. Es gibt ein schönes Wort von Nietzsche: Wer ein Warum im Leben kennt, der erträgt fast jedes Wie. Wer weiß, warum er lebt, der kann Leid ertragen. Von daher können rein intellektuelle
Erklärungen auch eine Hilfe sein.
“Leid wird im Alten Testament als eine Folge des Sündenfalls verstanden, d.h. des Abfalls des Menschen von Gott. Gott ist der Schöpfer des Lebens, der Mensch hat sich selbst aus der Gemeinschaft mit Gott herausgesündigt. Die Folge dieser Trennung von Gott ist Leid und Tod. Der Mensch hat sich vom Leben selbst gelöst, er ist einen eigenen Weg gegangen und die Folge ist der Tod. Interessanterweise wird das Wort, das im Neuen Testament für „sündigen“ steht, von Homer oft für einen Bogenschützen, der am Ziel vorbeischießt, gebraucht. Sündigen heißt eigentlich, das Ziel verfehlen. Das Ziel, auf das hin der Mensch geschaffen ist, wird verfehlt. Nicht zufällig wird im AT zuerst vom religiösen Sündenfall (1. Mose 3) berichtet und dann erst vom sozialen, dem Brudermord (1. Mose 4). Der Brudermord ist eine Folge der Trennung von Gott. Zunächst einmal ist das Verhältnis zu Gott nicht in Ordnung, daraufhin geschehen die Dinge, die wir oft als Sünde sehen, die aber eigentlich nur eine Folge der Sünde sind. Leid und Tod sind eine Folge der Sünde.”
„Ich möchte abschließend von dem erzählen, was mir selbst geholfen hat, vor allem nach dem Tod meiner Familie. Von den Freunden Hiobs kann man einiges lernen. Mir hat geholfen, dass Freunde zu mir kamen, einfach bei mir waren. Wenn man im Buch Hiob weiterliest, stellt man fest, dass die Freunde Hiobs später nicht gut auf Hiobs Situation reagiert haben. Aber am Anfang taten sie das Richtige: Sie sind hingegangen. Wenn jemand leidet, ist es wichtig, dass man ihm zeigt: Du bist nicht allein. Es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang von Zeit und Liebe. Zeit ist das Wichtigste, was man einem anderen Menschen schenken kann. Was mir neben den Freunden, die mich besuchten, sehr geholfen hat, war, dass ich die Worte der Losung gelesen habe. Ich habe schon oft erlebt, dass Gott durch sein Wort in mein Leben hinein gesprochen hat, gerade auch durch die Losung. Eine Woche nach dem Unfall nahm ich an der Beerdigung teil. Es war für mich wichtig, an der Beerdigung teilgenommen zu haben und zu sehen, dass wirklich ein Abschnitt sichtbar beendet ist. Ich habe mir das Losungsbuch kommen lasen und habe die Texte vom Unfalltag an gelesen. Am Tag der Beerdigung lautete der Liedvers: Sterben heißt, ans Ziel gelangen. Dazu aus dem 1. Johannesbrief: Das aber ist die Gabe Gottes in Christus Jesus: das ewige Leben. Am nächsten Tag aus Psalm 16: Mein Los ist mir auf liebliches Land gefallen. Das hat mich deshalb so angesprochen, weil es das Lieblingswort meiner Frau aus dem Alten Testament war. Am dritten Tag aus Hiob 2: Haben wir Gott für das Gute gedankt, sollten wir das Böse nicht auch aus seiner Hand nehmen? Hiob dankte Gott, als es ihm gut ging. Als sich das änderte, hat er nicht getrennt und gesagt: Für das Gute ist Gott zuständig und für das Böse nicht. Ihm war bewusst, Gott muss das Böse mindestens zulassen. Es heißt sogar im Alten Testament: Gibt es ein Unheil, das Gott nicht tut? Es ist nicht nur so, dass er Dinge zulässt, sondern er tut auch Dinge, von denen wir sagen würden: Wo ist Gott? Hiob hat gesehen: Das ist der gleiche Gott. Es gibt ein Wort in Hiob, das manchmal so übersetzt wird: Auch wenn er mich tötet, ich hoffe auf ihn. Das ist zweifellos das stärkste Vertrauen in Gott. Wir vertrauen auf den Gott, der Tote lebendig machen kann. Das letzte Losungs-Wort in der Woche des Unfalls findet sich in Römer 8: Weder Tod noch Leben kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn. Für mich war es eine Gnade in meinem Leben, dass ich erstens auf die Idee gekommen bin, überhaupt die Losungen zu lesen und zweitens, dass diese Worte auch bei mir angekommen sind. Es ist eine Gnade, sowohl, dass man das Wort liest als auch, dass es ankommt. Paulus schließt in 1. Kor 15: Weil Christus auferstanden ist, ist das, was wir tun in seinem Namen, nicht vergebens. Wo ist Gott? Man müsste umgekehrt natürlich fragen: Wo ist Gott nicht? Wenn er mich auch tötet, so hoffe ich auf ihn. Sicherlich eine der stärksten Aussagen der Hoffnung auf Gott, oder wie Paulus im 2. Korintherbrief schreibt: Wir haben unsere Hoffnung gesetzt auf den Gott, der Tote auferwecken kann. In dieser Welt ist alles Heilen vorläufig. Aber die Aussage des Neuen Testamentes, die bestätigt worden ist durch die Auferweckung Jesu von den Toten, lautet, dass es einmal einen Augenblick geben wird, an dem wird Jesus nicht nur zu dem Gelähmten, sondern zu uns allen sagen – und dann wird es kein vorläufiges Rufen sein: – Ich sage dir, stehe auf. Darauf hoffe ich und bin ganz gewiss: Er wird den Leib unserer Niedrigkeit verwandeln in den Leib seiner Herrlichkeit (Phil 3). Wir werden, so hat der Tübinger Theologe Otto Michel gesagt, nicht als achtzigjährige Greise auferweckt, sondern anders. Wie, das werden wir dann erfahren.“ Dr. Jürgen Spieß
Leid ist also die Folge des Losgelöst-Seins von Gott. Und Gott lässt es zu, weil er kein Theater Regisseur ist, sondern weil er Gott ist, der jedem seiner menschlichen Geschöpfe eine Entscheidungsfreiheit und einen Handlungsspielraum zugesteht.