Der Westen in der Angst-Falle

Der „Kölner Stadtanzeiger“ (Ksta.de) hat einen wunderbaren Artikel über die weltweit hysterisch berichtete Koranverbrennung geschrieben:
Die bloße Ankündigung eines Provinzpredigers, einen Koran zu verbrennen, reicht aus, um den Westen in Angst vor islamistischer Vergeltung zu versetzen. Also entschuldigen wir uns schon im Voraus – das trägt Züge einer Psychose.
Der radikale US-Pastor Terry Jones (r.) hat seine Koran-Verbrennung endgültig abgesagt.
Im Mai 2009 brannten in Afghanistan Bibeln, angezündet von US-Soldaten. Eine Kirchengemeinde hatte die Bücher in den beiden wichtigsten Sprachen Afghanistans ins Land geschickt, um zu missionieren. Weil dies Soldaten sowie Zivilisten gefährden könne, erläuterte ein US-Offizier, habe man die Exemplare der Heiligen Schrift vernichtet. Die Episode war eine kleine Meldung. Proteste sind nicht bekannt, kein Mensch kam zu Schaden. Anderthalb Jahre später, im September 2010, brannten in Florida keine Bücher. Kein Koran, um genau zu sein, wurde angezündet von dem durchgeknallten Pastor Terry Jones. Angedroht hatte er das indes. Die Episode hielt die halbe Welt in Atem, Zehntausende protestierten, in Afghanistan wurde ein Mensch erschossen.
Scheinbar haben die beiden Fälle nichts miteinander zu tun. Doch sie zeigen: In der Ära nach dem 11. September 2001 hängt die Reaktion auf eine Bücherverbrennung davon ab, welches Buch von wem verbrannt wird – und wen das beleidigen könnte. Sicher ist es eine widerliche, verwerfliche Provokation, wenn ein Priester den Koran verbrennen will. Aber ist es ein Grund, durchzudrehen? Müssen sich der Vatikan, die UN und auf der anderen Seite des Atlantiks die Bundeskanzlerin, der Zentralrat der Juden, die evangelische Kirche öffentlich distanzieren? Es scheint, als habe die gesamte westliche Welt (zu der auch Abermillionen Muslime gehören) das Bedürfnis geplagt, klarzustellen, dass sie mit dem Plan des Terry Jones nichts zu tun hat. Wie ein Verdächtiger, der schwört, zu Unrecht vor Gericht zu stehen.
Wer bitte ist Terry Jones?
Dabei wusste doch jeder, der Anstand und Verstand hat, dass niemand außer dem unwichtigen Provinzprediger Terry Jones hinter der Sache steckte. Dass die USA, der Vatikan, ja sogar die evangelische Kirche unschuldig sind. Trotzdem gab es tagelang gewaltsame Proteste und Hasspredigten in der islamischen Welt. Das Urteil war längst gefällt, Hass braucht keine Beweise. Warum dann noch die hysterische Selbstverteidigung? Aus Angst. Nach den Anschlägen von London 2005 veröffentlichten Tausende Menschen aus der ganzen Welt im Internet Bilder mit der Botschaft „We’re not afraid“ (Wir fürchten uns nicht). Was ist davon übrig, wenn der Oberbefehlshaber der US-Truppen in Afghanistan wegen einer drohenden Koran-Verbrennung in Florida öffentlich vor Gefahren für seine Soldaten warnt? Anschlag für Anschlag, Video für Video, Mord für Mord scheint dem Westen der Mut verloren zu gehen. Er ist paralysiert vor Angst.
Immer mehr Leute glauben, islamistische Mördertrupps würden von uns ablassen, wenn wir im Wald besonders freundlich herumpfeifen – oder den Mund halten. Statt darüber froh zu sein, dass wir freie Medien und ein unzensiertes Internet haben, wird am Fall Terry Jones darüber diskutiert, ob wir nicht ein bisschen zu viel berichten. Ob man nicht beim nächsten Mal dezenter mit einer Story wie dieser umgehen könnte – obwohl ein Fundamentalist, der den Koran verbrennt, nun mal eine gute Story ist. Die Schuld an der Eskalation suchen wir bei uns – als wären wir es, die mit Terror und Gewalt drohen. Selbstkritik wird zur Psychose. Wir entschuldigten uns noch, wenn man uns schlägt. Doch nichts, überhaupt nichts, rechtfertigt eine Ideologie, die Menschen dazu bringt, sich inmitten Unschuldiger in die Luft zu sprengen.
Kein Nobelpreis von Teheran bis Kandahar
Nicht einmal Terry Jones kann etwas dafür, wenn von Teheran bis Kandahar null wissenschaftliche Nobelpreisträger ausgebildet werden, weil die Jugend darin unterrichtet wird, Fahnen zu verbrennen und als Märtyrer zu sterben. Übrigens: In den nächsten Tagen könnte im Iran eine Frau gesteinigt werden. Wegen Ehebruchs. Vom Zentralrat der Muslime, vom Koordinierungsrat der Muslime, ja sogar von der evangelischen Kirche ist dazu keine öffentliche Distanzierung zu finden. Sie sind damit beschäftigt, besonnen auf Terry Jones zu reagieren.

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