Ende im Leichenschauhaus

Wieder einmal in Frankfurt/Main. Ich soll bei einer großen evangelistischen Veranstaltungsreihe mitwirken. Nachmittags schlendere ich am Hauptbahnhof durch die sogenannte B-Ebene. Das ist neben dem Gallus-Viertel einer der Hauptumschlagplätze für Rauschgift. Plötzlich ruft mir jemand nach: „Hey, Offizier.“ Ich drehe mich um und erkenne ihn: Peter! Peter aus Lüdenscheid. Ich hatte ihn dort kennengelernt bei einer christlichen Rehabilitationseinrichtung für Drogenabhängige. Damals hatte ich mich gefreut, daß er es offenbar gepackt hatte, fünf Wochen „clean“ also ohne Drogen zu bleiben. Und jetzt: Ich schaue ihn an: ungepflegt, fahrige Hände, Strähnen im Gesicht. So sieht keiner aus, der clean geblieben ist. Trotzdem frage ich ihn: „Haben die dich schon losgelassen, damit du hier mitmachen kannst bei der Evangelisation?“ „Nee“, sagt er, „war mir zu hart. Und dann das dauernde Gerede von Jesus. Ging mir auf den Geist. Außerdem hätte ich ja irgendwann wirklich ernst machen müssen mit Jesus. Komplett mein Leben ändern. Nee ?das war mir zu hart. Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten. Bin abgehauen. Ja, und jetzt ? jetzt bin ich wieder drauf.“”Schade, schade“, fährt es aus mir raus, „sollte Jesus sich umsonst für dich geopfert haben?“ Ich wußte, was die Worte „Jetzt bin ich wieder drauf“ bedeuteten: Damit hatte er sich die Todesspritze an den Arm gesetzt. Wir unterhalten uns noch eine Weile. Ich versuche, ihn zu überreden, es doch noch einmal mit einer Rehabilitation zu versuchen. Wir gehen das ganze Für und Wider miteinander durch. Ich biete ihm an, ihn wieder zurückzufahren, aber er will nicht. „Nein, zur Zeit kann ich es nicht“, sagt Peter, „aber gib mir doch deine Adresse.“
Ich reiche ihm meine Visitenkarte. Da stand meine damalige Anschrift in Düsseldorf drauf, Straße, Telefonnummer und so weiter. Außerdem auf der Innenseite ein Spruch, der schon manch einen zum Nachdenken gebracht hat. Ich habe ihn selbst einmal von einem Schweizer Heilsarmee-Offizier geschenkt bekommen. Er hat mir auch erlaubt, die Sätze zu verwenden. Nur zwei Sätze: „Wenn wir uns begegnen und Sie mich wieder vergessen, haben Sie nichts verloren. Aber wenn Sie Jesus begegnen und ihn wieder vergessen, haben Sie alles verloren.“
Einige Tage später bin ich wieder zu Hause. Das Telefon klingelt: Die Frankfurter Polizei meldet sich. Ich soll eine Leiche identifizieren, die man gefunden hat. Warum gerade ich? Der Mann hatte nichts bei sich, keinen Hinweis auf seine Identität, nur einen Zettel, der darauf hinwies, daß er jemanden kannte. Man hatte ihn auf einer Toilette gefunden, neben der Kloschüssel hingestreckt, tot, erstarrt. Es war ein Fixer, der sich den goldenen Schuß gesetzt hatte.

Ich fahre nach Frankfurt und muß immer an den jungen Mann aus Lüdenscheid denken. Sonst hatte ich doch keinem meine Adresse gegeben. Ich komme zum Leichenschauhaus. Eine gruselige Atmosphäre. Männer und Frauen in weißen Kitteln, Gummihandschuhe an. Es riecht nach Desinfektionsmitteln. Edelstahlsärge fahren vorbei. Die Beamten begrüßen mich. Wir gehen in die Kühlkammer. Es ist wie im Krimi. Dutzende von Kühlschranktüren in mehreren Reihen. Eine wird geöffnet, die Bahre herausgezogen, man kann die Gestalt noch nicht sehen, weil sie von ? einem Tuch abgedeckt wird. Sie schlagen die Decke zurück und ? es ist nicht zu beschreiben. Das Gesicht von einem, der sich mit Heroin totgespritzt hat. Ja, ich erkenne ihn wieder: Es ist Peter. Peter Namenlos. jo-scharwaechter.de

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