Freiheit trotz Rollstuhl und Knast. Wie geht das? Wer macht das?

Wer verstehen will, was das heißt, muss nur Josef Müllers Geschichte nachvollziehen. Als ein Unfall sein Rückenmark zerfetzte, war er gerade 17 Jahre alt. Seither sitzt der heute 64-Jährige im Rollstuhl. Behindert habe er sich dadurch aber nie gefühlt, sagt er. Im Gegenteil, der Rollstuhl trieb Josef Müller an und brachte ihn weit. Er schaffte es zum erfolgreichen Steuerberater. Unterhielt vier Kanzleien, hatte ein Haus in Italien, dazu ein Penthouse in den USA. Er brachte es zum Honorarkonsul, Botschafter – und zum Insassen bayerischer Gefängnisse. Zum Glück, sagt er. Denn dort – am wohl unfreisten Ort auf dieser Welt – habe er sie gefunden, die eigentliche Freiheit.

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Josef Müller saß mehrere Jahre im Gefängnis.Bild: Elisa Glöckner

Fürstenfeldbruck, eine knorrige Hecke rahmt den Garten. Seit einigen Jahren wohnt Josef Müller wieder hier, in seinem Elternhaus. Das ist alles, was aus seiner Zeit als Lebemann noch übrig ist. Josef Müller sitzt im Büro. Er trägt Sakko und Bundfaltenhose, keine Krawatte. Der Mann im Rollstuhl sieht nicht aus wie jemand, der fünfeinhalb Jahre im Knast verbracht hat. Eher wie ein Politiker, der eine Wahl gewinnen muss. Lediglich die Goldkette, die durch den Hemdkragen blitzt, scheint nicht ins Bild zu passen. Damals, sagt der Sohn eines Kriminalbeamten, sei sein Problem die Gier gewesen. Die Gier nach Geld. Für ihn bedeutete das, sich die vermeintliche Freiheit kaufen zu können.

Freiheit. Ein Begriff, der zumindest Souveränität bedeutet. Festgehalten ist dieser Gedanke als “Allgemeines Persönlichkeitsrecht”, wie das Bundesverfassungsgericht über den Artikel 2 des Grundgesetzes sagt. Meinungsfreiheit, Willensfreiheit, Entscheidungsfreiheit, Handlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Bildungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Vertragsfreiheit – all das sind Grundfreiheiten, die uns in Deutschland zustehen, jedenfalls auf dem Papier. Natürlich bedeutet das noch lange nicht, dass alle gleich frei sind. Und dass Freiheit von allen gleich empfunden wird.

Für Josef Müller bedeutete Freiheit damals Koks und Champagner. Er fährt einen Ferrari, in den sein Rollstuhl nicht passt. Besitzt einen schwarzen Rolls-Royce mit weißem Fahrer und einen weißen Rolls-Royce mit schwarzem Fahrer. Er verkehrt mit Rockstars und dem Adel. Mit Politikern und Unternehmern.

Dann rutscht er in die Illegalität. Ein Amerikaner, den er kennenlernt, entpuppt sich als Mafia-Boss. Für ihn hat Josef Müller Millionen nach Deutschland geschleppt und sie an der Börse verzockt. 1994 wird der Mann aus Fürstenfeldbruck wegen Bankrotts, Konkursverschleppung, Kreditbetrugs, Untreue und Steuerhinterziehung verurteilt. Weil er im Rollstuhl sitzt, findet sich für ihn aber kein Platz in einer Haftanstalt. Josef Müller bleibt frei und dem Geld treu. Von seinen Mandanten lässt er sich Darlehen geben, die er nicht zurückzahlen kann. 2007 kommt die Rechnung: Für millionenschweren Anlagebetrug kassiert der Mann im Rollstuhl fünfeinhalb Jahre. Diesmal wirklich, denn das Gefängnis in Stadelheim hat aufgerüstet – behindertengerecht.

Ist Freiheitsentzug das Gegenteil von Freiheit?

Wenn Freiheit bedeutet, über sich selbst bestimmen zu können, bedeutet Freiheitsentzug dann das Gegenteil? Ja und nein. Sollte der Staat seinen Bürgern etwas verbieten oder sie zu etwas zwingen wollen, dann geht das nur, wenn konkrete Rechte anderer Bürger verletzt werden. Kriminelle dürfen dann verhaftet, psychisch Kranke eingewiesen, Menschen wie Josef Müller bestraft werden. Wie aber fühlt sich das an? “Am ersten Tag geht die Tür zu. Aber diese Tür hat von innen keine Klinke”, schildert Josef Müller. Eingesperrt fühlt er sich, macht- und würdelos. “Was, wenn ein Feuer ausbricht? Vergessen sie dich? Ich war komplett meiner Selbstbestimmung beraubt.”

Die ersten Tage seien schlimm gewesen, räumt er ein. Das aber änderte sich bald. “Es war irgendwann wie Urlaub.” Der Mann, der Finanzjongleur, der an seiner Gier so gnadenlos gescheitert war, hatte Zeit nachzudenken. Zeit zu reflektieren und zu beten. Josef Müller fand die Freiheit im Glauben. Hinter Gittern. https://www.augsburger-allgemeine.de/

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