Fußball ist Opium für das Volk.

Fußballstadien sind die Kathedralen der Moderne, in denen geweint und gejubelt wird und Fans ihre über Jahre eingeübten, geradezu liturgischen Wechselgesänge anstimmen. So singen die Fans von Borussia Dortmund in ihrer Vereinshymne: „Leuchte auf, mein Stern, Borussia! Leuchte auf, zeig mir den Weg! Ganz egal, wohin er uns auch führt, ich geh mit Dir, Borussia! Bis in alle Ewigkeit“ – zur Melodie eines der meistgesungenen christlichen Lieder „Amazing Grace“ (Überraschende Gnade). Das vielleicht berühmteste Fanlied ist „You will never walk alone“ des FC Liverpool. Darin heißt es: „Wenn du durch Stürme gehst, halte deinen Kopf hoch oben und fürchte dich nicht vor der Dunkelheit. Und du wirst niemals allein gehen!“ (Siehe Video unten). Bibelkenner erkennen darin Anklänge an Gottes Zusagen aus Jeremia 43.
Fußballschauen bedeutet eben auch, auf die magischen Momente zu warten: auf die Schwerelosigkeit, mit der Argentiniens Lionel Messi über den Platz wirbelt, auf die Übersteiger, mit denen Portugals Cristiano Ronaldo den gegnerischen Abwehrspielern Knoten in die Beine spielt, oder auf den Sprung ins rechte untere Eck, mit dem Deutschlands Torhüter Manuel Neuer einen unhaltbar scheinenden Ball gerade noch um den Pfosten lenkt. Trotz des oft überraschenden Ausgangs folgen Fußballspiele einer bis ins Detail festgelegten Liturgie: Dazu gehören das Fahnenschwenken und kollektive Ausbreiten der Fanschals vor Spielbeginn, das Darbringen von Rauch- und Brandopfern in Form von – allerdings verbotenen – bengalischen Feuern, das gemeinschaftliche Anrufen der Spieler der eigenen Mannschaft, das Singen und Hüpfen – und schließlich: der Verzückungsjubel, wenn die eigene Mannschaft in Führung geht. Der Musikpsychologe Reinhard Kopiez sieht in Fußballstadien deshalb „eine bedeutende – wenn nicht gar die bedeutendste – Kultstätte unserer Zeit“. Beim Fußball zeige sich „das Bedürfnis der Menschen nach religiösen Erfahrungen in einer säkularisierten Gesellschaft“. Richtig sei daher die Diagnose: „Der Mensch ist unheilbar religiös.“ Aus theologischer Sicht ist der als Profi-Sport betriebene Fußball eine erbarmungslose Leistungsreligion. Nur die wenigsten Spieler schaffen es in die erste Mannschaft, und jedes Jahr drängen neue, junge Talente nach. Wer sich verletzt oder formschwach ist, wird aussortiert. Fußballer sind Helden auf Zeit – mit Anfang 30 gilt man im Fußball schon als Greis. Dazu kommt: Bei aller Sinnstiftung und Erbauung, die dem Fußballspiel innewohnen kann, hat es doch auf Krankheit, Alter und Sterben keine Antwort. Die Heilserwartung, die manche an den Fußball richten, wird am Ende enttäuscht. In einem Interview sagte der 82-fache Fußballnationalspieler Arne Friedrich: „Fußball hat bei uns eine große Kraft und wahrscheinlich auch religiöse Züge. Für viele ist Fußball der Anker im Leben. Ich finde das schwierig, würde das ungern mit echtem Glauben gleichsetzen. Zumal es beim Fußball ja um Erfolge geht, ums Gewinnen oder Verlieren. Das ist bei Gott nicht so.“ – „Was ist Ihnen wichtiger: Fußball oder Glaube?“, wurde Friedrich in dem Interview gefragt. Seine Antwort: „Das ist eine ziemlich harte Frage, aber ich lege mich da gerne fest: Ich möchte lieber ohne Fußball leben als ohne meinen Glauben.“ (idea-Redakteur Karsten Huhn)

 

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