O Haupt voll Blut und Liedern
Der protestantische Poet Paul Gerhardt, geboren am 12. März 1607, ist der größe Lied-Dichter Deutschlands. Fast 140 Kirchenlieder hinterließ er. Zum 400. Geburtstag wird die Erinnerung an Gerhardt wieder belebt. Zum Mitsingen!
Bach, Goethe, Mozart, und nun, 2007, Gerhardt – Paul Gerhardt. Deutschland gedenkt des evangelischen Prediger-Poeten, der vor 400 Jahren, am 12. März 1607, im damals kursächsischen Gräfenhainichen geboren wurde. Mit Themen-Gottesdiensten, Konzerten und Ausstellungen feiert die EKD zwölf Monate lang den Barockdichter.
Seine „Tröstelieder“ (Theodor Fontane) zählen zum Kernbestand unseres hymnologischen Gedächtnisses. Seine Dichtung gehöre neben Luthers Bibelübersetzung und Grimms Märchen zu den bekanntesten deutschen Texten überhaupt, sagt der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber. Für die englische Übersetzerin Catherine Winkworth (1827-1878) spiegelten sie gar den „eigentlichen Genius des deutschen Volkes“ wider. 31 Schulen in Deutschland tragen Gerhardts Namen; nur ein anderer Großer des Protestantismus bringt es mit 46 auf mehr: Martin Luther.
„O Haupt voll Blut und Wunden“
An die 30 von Gerhardts insgesamt 139 Liedern finden sich heute noch im Evangelischen Gesangbuch, und auch im katholischen „Gotteslob“ ist er vertreten. Sein Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ wurde schon 30 Jahre nach seinem Tod 1676 in Lübbenau in katholische Gesangbücher aufgenommen.
Doch Gerhardts Ruhm ist eher von anonymer Art. Man kennt seine Lieder, vor allem seinen Sommergesang „Geh aus, mein Herz und suche Freud“ und sein „Ich steh an Deiner Krippen hier“, aber nur schwer gelingt die konkrete Annäherung an den Mann hinter diesen Schöpfungen. Gerhardt versteckt sich hinter seinen Liedern, er hat keine Tagebücher hinterlassen, es ranken sich keine Legenden um ihn. „Er ist uns nah und fern zugleich“, sagt Christian Brunners, Präsident der Paul-Gerhardt-Gesellschaft. „Es geht uns mit ihm wie beim Betrachten der Welt durch ein Fernglas: Von welcher Seite aus man jeweils hindurchschaut, rückt sie entweder weit ab oder kommt ganz nah.“
Wem Gerhardts Lieder in eigenen Krisen zum Beistand wurden, der empfindet den Dichter wie einen guten Bekannten. Wer nicht über diese Vertrautheitsbrücke gegangen ist, wird mit dieser Dichtung wohl seine Not haben. Die Glaubensgewissheit seiner Lieder, das meint auch Brunners, Gerhardts Tiefe der Meditation, seine Himmelssehnsucht und Sterbebereitschaft, die ackerbürgerliche und ständisch geprägte Welt in seinen Texten, die Rollenzuweisungen an Frau und Mann – „das bringt ihn und seine Lieder auf Abstand“.
Die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges
Paul Gerhardt: eine Hiob-Existenz. Mit 14 Jahren Vollwaise, durchlebt er die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges und die Leiden der Pest. Vier seiner fünf Kinder sterben, und auch mit dem Tod seiner Frau muss er fertig werden. Dennoch strahlen seine Texte unerschütterliche Hoffnung und Zufriedenheit aus. Die Not, heißt es bei seiner Biografin Erika Geiger, lehrte ihn dichten.
Der Sohn eines „Ackerbürgers“ wird 1622 auf die Fürstenschule nach Grimma geschickt, 1628 bezieht er die Universität Wittenberg, um Theologie zu studieren. Der Studiosus hört aber auch Vorlesungen über Dichtkunst und findet Anschluss an den Wittenberger Dichterkreis. Er verdingt sich als Hauslehrer in Berlin und wird 1651, mit 44 Jahren, Propst in Mittenwalde.
1657 geht Gerhardt als Diakon an die Kirche St. Nikolai in Berlin. Er trifft dort auf eine heikle konfessionelle Gemengelage. „Streit um den Kirchenfrieden“ wird dieses Kapitel einmal überschrieben werden. Es führt zu einem einschneidenden Bruch in Gerhardts Biografie. Kurfürst Friedrich Wilhelm, genannt der Große, dem reformierten Bekenntnis zugehörig, verbietet „das unnötige Eifern, Gezänk und Disputieren auf den Kanzeln“ zwischen lutherischen und reformierten Geistlichen.
Die Konkordienformel außer Kraft setzen
Er versucht, entgegen einem Versprechen von 1653, die „Konkordienformel“ außer Kraft zu setzen, eine der wichtigsten Bekenntnisschriften der Lutheraner. Sie bekräftigt und interpretiert die lutherische Lehre, dass im Abendmahl der Leib und das Blut Christi „wahrhaftig und wesentlich gegenwärtig sei, mit Brot und Wein wahrhaftig ausgeteilet und empfangen werde“, und sie verwirft die Lehre Calvins, dass „Brot und Wein mit dem Munde, der Leib Christi aber allein geistlich durch den Glauben empfangen werde“.
Es ist eine kämpferische Theologie, die der Abendmahlsartikel verteidigt. Ein Lebensprogramm. Dieser existenzielle Ernst, der damit einhergeht, sei uns heute verloren gegangen, konstatiert rückblickend die EKD-Kulturbeauftragte Petra Bahr. „Das mag in der einen oder anderen Frage Frieden stiften. So mancher faule Friede wird allerdings mit einer Sprachlosigkeit erkauft, die weniger mit Konsensen denn mit Wahrheitsvergessenheit zu tun hat. Denn Wahrheitsansprüche verpflichten.“
In Preußen Mitte des 17. Jahrhunderts führen „Religionsgespräche“, vom Kurfürsten angeordnet, zu keinem Ende der theologischen Kontroversen. Nun fordert Friedrich Wilhelm von den Pfarrern die Unterschrift unter „Toleranzedikte“. Wer sich weigert, den wolle er jagen, bis ihm die Schuhe abfielen. Viele fügen sich. Nicht aber Paul Gerhardt. Er rückt zum Kopf des Widerstandes auf. Wo es um sein Luthertum geht, da gibt es für den Prediger an St. Nikolai keine Kompromisse.
"Gott sitzt im Regimente"
Dabei betont er immer wieder, dass er seinen Landesherrn als von Gott eingesetzte Obrigkeit anerkenne. Die Freiheit des Gewissens und Glaubens jedoch, in Bindung an die Bibel, liege auf einer anderen Ebene. Hier habe sich ein weltlicher Herrscher nicht einzumischen. „Bist du doch nicht Regente, der alles führen soll. Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl“, dichtet Gerhardt.
Der Konflikt treibt auf die Spitze zu, Gerhardt wird seines Amtes enthoben. Aber er ist schon als Poet so bekannt, dass die Absetzung selbst beim Adel mit Murren aufgenommen wird. Und der Berliner Magistrat verweist in einem Schreiben an den Kurfürsten darauf, dass sogar in dessen „Märkischem Gesangbuch“ eine große Anzahl der Gerhardt-Lieder abgedruckt sei: „Sollte nun ein solcher frommer, geistreicher und in vielen Landen berühmter Mann diese Stadt quittieren, wäre zu besorgen, dass ein sonderliches Nachdenken bei den Extris (Auswärtigen) entstehen und Gott daher unsere Stadt heimsuchen möchte.“
Der Kurfürst lenkt etwas ein, er will dem Diakonus die Unterschrift erlassen. Aber um welchen Preis? Er soll sich auch so im Sinne des „Toleranz-Edikts“ verhalten. Für Gerhardt ein nicht akzeptables Angebot. Er lässt sein Amt ruhen, die weltliche Obrigkeit wertet dies als Amtsverzicht. Und im Jahr seiner Absetzung erscheint ein Lied von Paul Gerhardt im Erstdruck, dessen Anfangszeilen als Protest gegen falsch ausgeübte Macht gedeutet werden kann: „Was trotzest du, stolzer Tyrann, / Dass deine verkehrte Gewalt / Den Armen viel Schaden tun kann?“
Das Lied ist, so der Gerhardt-Kenner Brunners, weithin unbekannt geblieben: „Es passte nicht zu dem für Gerhardt-Darstellungen bevorzugten Bild von einer ‚milden‘ Persönlichkeit. Es zeigt aber, dass der Dichter zusammen mit seiner Befiehl-du-deine-Wege-Frömmigkeit auch flammende Kritik an bedrückenden Verhältnissen und Einsatz für die Armen geübt hat.“
Uwe Siemon-Netto, der an der lutherischen Hochschule in St. Louis (USA) lehrt, kommt zu dem Schluss: In seinen Versen trotzt Gerhardt dem erlittenen Leid, aber nicht denjenigen, die ihm das Leid zufügten, und auf diese Weise schaffte er Trost: „Hier liegt der Unterschied zwischen Trotz und Kampf.“ Luthers Situation sei eine andere gewesen: Der Reformator kämpfte verbal gegen die Pervertierung des Evangeliums und widersetzte sich dessen Widersachern. Gerhardt hingegen trug das von ihm und seinen Mitmenschen zugefügte Leid, zeigte ihm jedoch die Stirn, weil er von Luther und Paulus gelernt hat, dass das Kreuz im Grunde schon überwunden ist. „Damit gehören Luther und Gerhardt zusammen.“
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