Fast ein Jahr lang bewahrte ich einmal den flaschenähnlichen Kokon (die Puppe) eines Nachtfalters auf. Er ist sehr eigenartig in seiner Konstruktion. Im Hals der „Flasche“ befindet sich eine schmale Öffnung, durch die sich das fertige Insekt hinaus zwängt, sodass ein leerer Kokon genauso unbeschädigt aussieht wie ein bewohnter, weil die ineinander verschlungenen Fasern an keiner Stelle gerissen sind. Man staunt über das Missverhältnis zwischen der Austrittsöffnung und der Größe des gefangenen Insekts und wundert sich, wie das Tier überhaupt durchschlüpfen kann. Es geschieht immer unter großer Anstrengung und mit Schwierigkeiten. Man vermutet, dass der Druck, dem der Körper des Tieres beim Ausschlüpfen durch eine solch enge Öffnung ausgesetzt ist, von der Natur so eingerichtet wurde, um die Lebenssäfte in die Gefäße der Flügel zu pressen, weil diese beim Ausschlüpfen aus dem Kokon weniger entwickelt sind als bei anderen Insekten. Eines Tages war ich Zeuge der ersten Anstrengung eines Falters, sein Gefängnis zu verlassen. Einen ganzen Vormittag lang beobachtete ich, wie das Tier geduldig arbeitete und sich anstrengte, ins Freie zu gelangen. Es schien jedoch nie über eine gewisse Stelle hinwegzukommen. Schließlich war meine Geduld erschöpft. Wahrscheinlich war das Gewebe trockener und weniger elastisch, als wenn der Kokon den ganzen Winter über auf der Heide gelegen hätte, wie es von der Natur vorgesehen war. Auf jeden Fall dachte ich, ich wüsste es besser und hätte mehr Mitleid mit dem Tier als sein Schöpfer. So beschloss ich, etwas nachzuhelfen. Mit der Schere schnitt ich ein paar Fasern durch, um den Ausgang ein klein wenig breiter zu machen. Und siehe da! Mein Falter schlüpfte sofort und mühelos durch, schleppte aber einen riesigen Körper mit sich und kleine, verkümmerte Flügel. Vergeblich wartete ich auf den großen Augenblick, in dem die Flügel sich vor meinen Augen entwickeln und ausbreiten würden. Da ich die Punkte und Zeichnungen in den verschiedenen Farben bereits sehen konnte, wartete ich gespannt, bis sie die richtigen Proportionen annehmen und den Falter in seiner vollkommenen Schönheit zeigen würden. Aber ich wartete vergeblich. Mein falsches Mitgefühl hatte sich als sein Verderben erwiesen. Das Tier wurde nicht mehr als eine verkümmerte Missgeburt, die sich beschwerlich durch dieses kurze Leben schleppte, während es doch dazu bestimmt war, sich in die Luft zu schwingen. An diesen Vorgang wurde ich oft erinnert, wenn ich Menschen sah, die mit Sorgen, Leid und Qual belastet waren, und ich dann aus Mitleid versucht war, ihre Leidensschule abzukürzen und ihnen Befreiung zu verschaffen. Ich kurzsichtiger Mensch! Wie weiß ich denn, ob ein Schmerzensschrei oder Stöhnen erlassen werden kann? Die weitsichtige, vollkommene Liebe Gottes, der seine Kinder vollkommen machen will, schreckt nicht vor vorübergehenden Leiden zurück. Die Liebe unseres Vaters ist zu echt, um schwach zu sein. Weil er seine Kinder liebt, züchtigt er sie, damit sie seiner Herrlichkeit teilhaftig werden. Dieses große Ziel hat er im Auge und schont sie deshalb nicht, wenn sie auch weinen. Durch Leiden werden die Söhne Gottes zum Gehorsam erzogen und durch viel Trübsal zur Herrlichkeit geführt. Bibellese dazu: 2. Korinther 4,16–18.
„Denn ich halte es dafür, daß dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht wert sei, die an uns soll offenbart werden.“(Römer 8,18) Alfred Bellmann