„Wie kann es einen Gott geben, wenn die Welt so offensichtlich ungerecht, leidvoll und sinnlos ist?“ – Das ist, auf einen Satz reduziert, die Frage der „Theodizee“.
Eli Wiesel schreibt nach seiner Befreiung aus dem KZ auf Wunsch der Alliierten seine grauenhaften Erfahrungen nieder. Dort heißt es an einer Stelle:
Ich habe in der Folge mehreren Erhängungen beigewohnt. Nie habe ich einen der Verurteilten weinen sehen, denn ihre ausgemergelten Körper hatten seit langem den bitteren Trost der Tränen vergessen.
Mit Ausnahme einer Vollstreckung. Der Oberkapo des 52. Kabelkommandos war ein Holländer, ein über zwei Meter hoher Riese. Siebenhundert Häftlinge arbeiteten unter seinem Befehl und alle liebten Ihn wie einen Bruder. Nie hatte einer eine Ohrfeige von seiner Hand bekommen, nie einen Fluch aus seinem Munde gehört.
Er hatte im Dienst einen jungen Burschen bei sich, einen Pipel, wie man ihn nannte, ein Kind mit feingezeichneten schönen Gesichtszügen, das nicht in unser Lager passte.
(In Buna hasste man die Pipel: Dort erwiesen sie sich oft grausamer als die Erwachsenen. Ich habe einmal einen Dreizehnjährigen seinen Vater schlagen sehen, weil dieser sein Bett nicht gut gemacht hatte. Da der Alte sanft weinte, schrie der Junge: „Wenn du nicht sofort aufhörst zu heulen, bring ich dir kein Brot mehr. Verstanden?“ Der kleine Diener des Holländers wurde jedoch von allen geliebt. Er hatte das Gesicht eines unglücklichen Engels.)
Eines Tages flog die Elektrozentrale von Buna in die Luft. An Ort und Stelle gerufen, schloss die Gestapo auf Sabotage. Man fand eine Fährte, die in den Block des holländischen Oberkapos führte. Dort entdeckte man nach einer Durchsuchung eine bedeutende Menge Waffen.
Der Oberkapo wurde auf der Stelle festgenommen. Wochenlang wurde er gefoltert. Umsonst. Er gab keinen Namen preis, wurde nach Auschwitz überführt und war fortan verschollen.
Aber sein Pipel blieb im Lager, im Kerker. Gleichfalls gefoltert, blieb auch er stumm. Die SS verurteilte ihn daher zusammen mit zwei anderen Häftlingen, bei denen Waffen gefunden worden waren, zum Tode.
Als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, sahen wir auf dem Appellplatz drei Galgen. Antreten. Ringsum die SS mit drohenden Maschinenpistolen, die übliche Zeremonie. Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen.
Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz.
Diesmal weigerte sich der Lagerkapo, als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle.
Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schling eingeführt.
„Es lebe die Freiheit“ riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg.
„Wo ist Gott, wo Ist er?“ fragte jemand hinter mir.
Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um.
Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter.
„Mützen ab!“ brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten.
„Mützen auf!“
Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr… Aber der dritte Strick hing nicht leblos, der leichte Knabe lebte noch …
Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorbeischritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen.
Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen:
„Wo ist Gott?’
Und ich hörte eine Stimme in mir antworten:
„Wo er ist? Dort – dort hängt er, am Galgen…“
Eli Wiesel
Gott hat durch das Leiden und Sterben von Jesus Christus deutlich gemacht, dass er mit uns leidet. Er erklärt uns nicht alles, er verschont uns nicht vor Leiderfahrungen, aber ist immer der «innig mitfühlende Gott» (Die Bibel Jakobus, Kapitel 5, Vers 11) mit offenem Herzen und offenen Armen für die, die am Leben verzweifeln. Er ist nie weiter als ein Gebet von unserer Zerbrochenheit entfernt. R.S.