Warum sollten wir vom Himmel reden?
1. Christen sollten vom Himmel sprechen, weil der Himmel unsere wahre Heimat ist
Im Deutschen hängen die Worte Heimat und Himmel sprachlich zusammen.
Paulus schreibt in Phil. 3,20: “Unsere Heimat ist im Himmel”. Der
Himmel – der Wohnort Gottes und der Wohnort der Erlösten – ist für uns
gemacht. Er ist unsere Berufung. Wer nicht dorthin will, sondern sich
mit dem Leben hier abfindet, der lebt unter seiner Berufung und gibt
sich mit zu wenig zufrieden. Gott möchte uns mehr geben als das, was
wir hier haben. Wir sind für mehr gemacht als nur für diese
vergängliche, sichtbare Welt.
2. Christen sollten vom Himmel sprechen, weil der “Verlust des Himmels” auch andere Verluste nach sich gezogen hat.
Ich
möchte drei Punkte nennen, die auch in der modernen Philosophie
diskutiert worden sind: Der Verlust des Himmels (oder der Verlust des
Glaubens ans Jenseits) führt zum Verlust der Gewißheit, zum Verlust der
Gnade und zum Verlust der Hoffnung.
2.1. Verlust der Gewißheit
Mit dieser Frage hat
sich vor allem der polnische Philosoph Leszek Kolakowski
auseinandergesetzt und geschrieben, dass im 18. und auch noch in der
ersten Hälfte des I9. Jahrhunderts die Atheisten fröhlich waren. Wir
haben davon noch einen Widerhall gefunden in dem Gedicht von Heine,
etwas auch noch bei Feuerbach. Sie waren optimistisch und fröhlich.
Wenn wir die Ketten von Kirche und Staat abwerfen, dann kommt das
Himmelreich auf Erden, die neue, freie Welt. Aber sehr bald, schon in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ganz besonders stark bei
Nietzsche, änderte sich diese Situation. Auf einmal wurde dem Menschen
bewußt, dass der Verlust Gottes, der Verlust des Himmels auch Verlust
der Gewißheit bedeutet, der Gewißheit darüber, warum wir leben und wer
eigentlich die Schöpfung zusammenhält. Wer garantiert die
Gesetzmäßigkeit der Sterne und des Weltalls, wer garantiert unser
Denken, unsere Ethik? Und so, schreibt Kolakowski, wurde gegen Ende des
19. Jahrhunderts aus dem fröhlichen Atheismus ein sehr pessimistischer,
nihilistischer Atheismus. Man wird im 20. Jahrhundert in der Literatur
kaum noch Atheisten finden, die fröhlich sind. Wer Kafka oder Sartre
oder Camus liest, spürt es: da kommt keine rechte Freude auf. Schon
bei Nietzsche steht mehr der Mensch im Mittelpunkt, der “zur Freiheit
verdammt” ist und der sich auf einmal als einen unter Millionen sieht.
Als Christen haben wir etwas dazu zu sagen, dass
der Mensch nicht ein Produkt von Unfall, Zufall oder Notwendigkeit ist,
sondern dass er von einem liebenden Gott geschaffen ist. Und deshalb
müssen wir auch etwas sagen über diesen Gott und über die Zielsetzung
unseres Lebens.
2.2. Verlust der Gnade
Das ist ein Gedanke, den
der Gießener Philosoph Odo Marquard entfaltet hat. Er sagt, es wird in
der europäischen Geistesgeschichte das Stück “Die Gerichtsverhandlung”
gespielt mit dem Thema “Wer ist für das Böse in der Welt
verantwortlich?”. In der Antike saß der Mensch auf der Anklagebank, und
Gott war der Ankläger. Aber der Mensch wurde christlich freigesprochen
– aus Gnade. Gott hat ihm die Freiheit gegeben.
Interessanterweise erscheint bei Augustin in seiner Autobiographie zum
ersten Mal überhaupt in der Weltliteratur ein Eingeständnis auch
eigener Schuld. Bis heute ist es eher so: Wenn Leute Biographien
schreiben, steht immer nur darin, warum sie so gut waren und warum die
anderen Schuld hatten an diesem oder jenem. Weil er von Gott begnadigt
ist, kann Augustin es sich leisten, in seinen “Bekenntnissen” zu
schreiben, dass er Fehler begangen hat, dass er ein Sünder ist. Er kann
aus Gnade leben.
Nach Marquard hat in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine große
Veränderung stattgefunden: Auf einmal hatte man nicht mehr den Menschen
auf der Anklagebank, sondern Gott. Der Mensch hat nun Gott gefragt:
Woher kommt eigentlich das Böse in der Welt? Und dann, so schreibt
Marquard, hat der Mensch Gott freigesprochen “wegen der erwiesensten
aller Unschuld, wegen Nichtexistenz”. Doch damit war das Problem des
Bösen noch nicht gelöst. Das Böse war immer noch da, auch nachdem man
Gott für nichtexistent erklärt hatte. So war der Mensch auf einmal
beides geworden, der Ankläger und der Angeklagte. Wie hält er das aus?
Marquard sagt, man hält es nur dadurch aus, dass man die Menschen in
gute und böse einteilt. Und deshalb haben alle modernen Philosophien
einen Feind, den sie bekämpfen; sie brauchen ein Feindbild. Es muss ja
irgendeiner für das Böse in der Welt verantwortlich sein. Ich bin es
nicht, das steht fest, also kannst nur du es sein. Es gibt eine Flucht,
so Marquard, vom Gewissen-Haben ins Gewissen-Sein oder, anders
formuliert, man entkommt dem Tribunal, indem man es wird. Hieraus
entstanden später im 20. Jahrhundert die totalitären Systeme, die zu
totalitären Staaten wurden, der Kommunismus und der Faschismus.
Christen haben etwas zu diesem Verlust der Gnade
zu sagen. Vergebung ist möglich, und Menschen können angesichts des
Bösen nur leben, indem sie ihre Fehler und ihre Schuld zugeben und
gleichzeitig auch Vergebung erfahren.
2.3. Verlust der Hoffnung
Hiermit hat sich vor
allem Josef Pieper beschäftigt. Von Hoffnung kann man nur sprechen,
wenn es um Dinge geht, die man nicht selber machen kann, die von außen
auf uns zukommen. Er nennt uns zwei einfache Beispiele: Wenn wir einen
Schreiner bitten, er solle uns einen Schreibtisch in einer bestimmten
Größe herstellen, und der Schreiner sagt: “Ich hoffe, ich mache es so”
– dann werden wir besser den Schreiner wechseln. Entweder kann er das,
oder er kann es nicht. Es ist keine Frage seiner Hoffnung. Wenn der
Vater zum Sohn sagt: “Ich hoffe, du wirst fleißiger in der Schule”,
dann ist das der richtige Gebrauch des Wortes Hoffnung. (Wenn der Sohn
sagt: “Ich hoffe das auch”, muss man darüber nochmal nachdenken.) Wir
sprechen von Hoffnung also nur bei Dingen, die wir nicht selber
herbeiführen können. Wenn es aber keinen Gott gibt, was gibt es dann zu
hoffen?
Interessanterweise fehlt in allen philosophischen
Lexika des Marxismus der Begriff ‚Hoffnung’. Die Frage nach der
Hoffnung muss, wie Kant gesagt hat, religiös beantwortet werden. Oder
anders gesagt: Der Mensch kann selber nichts dazu beitragen, dass
Hoffnung sich erfüllt. Deshalb ist das Gebet der stärkste Ausdruck der
christlichen Hoffnung. Denn im Gebet wenden wir uns an Gott, und wir
gehen davon aus, dass wir uns selbst nicht (mehr) helfen können.
Gebetslosigkeit ist auch Hoffnungslosigkeit. Wer nicht betet, glaubt
entweder, dass er alles alleine schafft oder dass ihm niemand helfen
kann. Beides ist gleich hoffnungslos. Deshalb bedeutet Verlust des
Himmels und Verlust Gottes auch Verlust der Hoffnung. Deshalb die
Hoffnungslosigkeit unserer Welt, und deshalb müssen wir Christen vom
Himmel sprechen, um dem Verlust der Hoffnung entgegenzuwirken.
Nun geht es nicht nur um die private Hoffnung, die Hoffnung auf die
eigene Auferstehung. Es geht um mehr, wie das Gespräch des deutschen
Philosophen Horkheimer mit einem Journalisten kurz vor seinem Tode
zeigt: Der Journalist fragt: “Glauben Sie, dass es Gott gibt?”
Horkheimer antwortet: “Ich fürchte, es gibt keinen Gott.” Warum er das
fürchte? Manche fänden es doch gut, dass es keinen gebe. Horkheimer
antwortete sinngemäß: Wenn es keinen Gott gibt, dann gibt es auch keine
Gerechtigkeit, denn alles, was wir sehen können in dieser Welt, ist,
dass es keine Gerechtigkeit gibt. Es gibt in der Geschichte keine
Gerechtigkeit für die Opfer und die Täter. Was soll man den Menschen
sagen, die in Auschwitz und den Archipels Gulags umgekommen sind? Wo
ist die Gerechtigkeit? Wenn es keinen Gott gibt, wird es sie nie geben.
Auch deshalb sollten Christen vom Himmel sprechen, weil sie wissen,
dass es eine Gerechtigkeit gibt für Opfer und für Täter, dass es auch
einen Trost gibt für das Leid, und dass einmal alle Tränen abgewischt
werden. Innerhalb dieser Welt gibt es nur vorübergehende Tröstungen,
keine wirklich tiefgreifende Antwort auf die Tragiken und Absurditäten
des Lebens. Aber es gibt die Verheißung der neuen Welt, in der
Gerechtigkeit wohnt und die Verheißung, dass der Jesus Christus, den
Gott von den Toten auferweckt hat, Richter über Lebende und Tote sein
wird und gerecht richten wird. Der Schweizer Dichter Kurt Marti hat
einmal geschrieben: “Das könnte manchen Herren so passen wenn mit dem
Tode alles beglichen… [und] für immer bestätigt wäre”, dass es keine
Auferstehung der Toten gibt. Nee, nee, es kommt nochmal alles zur
Sprache. So einfach nicht.
3. Christen sollten vom Himmel sprechen, weil das Wissen um den Himmel frei macht zum Dienst für andere
Wenn
es so schön im Himmel ist, könnte man fragen, warum denn die Christen
nicht direkt in den Himmel gehen? Paulus schreibt in Phil. 1: “Es wäre
besser, bei Christus zu sein, aber es ist notwendiger, hier zu sein um
euretwillen.” Er versteht sein Leben hier als einen Dienst, den er tut,
weil Christus es möchte. Paulus fügte nicht hinzu: ‚Die paar Jahre
kriege ich auch noch rum’, sondern: Das Leben hier bedeutet mir ein
fruchtreiches Schaffen. In der Nachfolge Jesu hat das, was wir tun,
Bestand für die Ewigkeit. Der Vorwurf, dass diejenigen, die auf den
Himmel hoffen, in dieser Welt passiv sind, ist historisch leicht
widerlegbar. Carl-Friedrich von Weizsäcker hat dazu geschrieben, dass
die Christen wie niemand sonst diese Welt verändert haben, gerade die
Christen, die an das baldige Ende der Geschichte geglaubt haben. Warum
haben sie diese Welt so verändert? Deshalb, weil sie sich um ihren
Nächsten gekümmert haben. Kaiser Julian (4. Jh.), ein Gegner der
Christen, schrieb: “Der Erfolg der Christen besteht darin… Sie kümmern
sich nicht nur um ihre eigenen Leute, sondern sie kümmern sich sogar um
unsere Armen und Kranken.”
Die Hoffnung auf den Himmel hat Menschen in Bewegung gesetzt.
Vielleicht kann überhaupt nur die Hoffnung auf den Himmel uns dauerhaft
in Bewegung setzen, weil dort ja für uns gesorgt ist. Wer glaubt, dass
er nur dieses Leben hat, der muss es natürlich vollpacken und raffen,
was er bekommen kann. Wer aber weiß, dass dieses Leben nur ein
vorübergehendes ist, nur ein Geschenk auf Zeit, der kann sich
loslassen, kann sich einsetzen für andere, so wie Paulus. Wenn wir vom
Himmel sprechen, dann sollten unsere Taten nicht zum Himmel schreien,
so wie es Manfred Siebald in einem Lied gedichtet hat. Vielleicht sind
ja Heine, Feuerbach und andere (zu) vielen Menschen begegnet, bei denen
Wort und Tat nicht übereingestimmt haben.
4. Christen sollten vom Himmel sprechen, damit die Menschen um uns herum nicht nach einem falschen Himmel suchen
In Pred. 3,11 steht, dass die Sehnsucht nach
Ewigkeit in unsere Herzen gelegt ist. Ich glaube, alle Menschen ahnen,
dass es mehr gibt als die sichtbare, vergängliche Welt. Sie spüren bei
jeder Erfahrung von Schönheit oder Freude oder auch von Schmerz und
Trauer, dass hier nicht unsere wahre Heimat ist. Auch hier ist die
deutsche Sprache sehr interessant, denn das Wort “leiden” kommt vom
mittelhochdeutschen “lidan” und heißt “in die Fremde ziehen”. Wer
leidet, hat den Eindruck, dass er hier in der Fremde ist. Das deutsche
Wort Elend heißt eigentlich “außer Landes sein”.
Es hat mich sehr überrascht, als ich zum ersten
Mal in der Sowjetunion war, dass sehr viele Menschen in dem Staat, der
behauptete, es gibt nur diese eine Welt, vor allen Dingen an Ufos und
allem Außerirdischem interessiert waren. Dieses Interesse war der
Versuch, auszubrechen aus dem geschlossenen System, das sagt, es gibt
nur diese eine Welt. Alle wußten: Es kann nicht sein, dass es nur diese
Welt gibt.
Wir sollten vom Himmel Gottes sprechen, damit die Menschen nicht einen
falschen Himmel suchen, damit sie sich nicht mit zu wenig
zufriedengeben, ihre Sehnsucht zuschütten und denken, es kommt nichts
mehr, damit sie nicht in den Rausch flüchten oder nach den Ufos suchen.
Die Sehnsucht nach Ewigkeit ist in unser Herz gelegt. Deshalb sollen
wir auch anderen gegenüber von dieser Verheißung Gottes, dem neuen
Himmel und der neuen Erde, in der Gerechtigkeit wohnt, nicht schweigen.
Am Ende von C.S. Lewis’ Buch “Perelandra” gibt es eine Diskussion
darüber, dass in der Theologie die Lehre von der Wiederkunft Christi
unter “Eschatologie”, der Lehre von den letzten Dingen, verhandelt
wird. Ein Gesprächspartner fragt ganz überrascht: Wenn Jesus
wiederkommt, geht’s doch erst los – was heißt hier “letzte Dinge”?
Der leicht gekürzte Artikel wurde 1996 als
einführendes Referat auf der Herbstkonferenz der SMD gehalten, die
unter dem Gesamtthema “Um Himmels willen” stand. Dr. Jürgen Spieß
Jawoll!