Keine Liebe: Geboren auf der Reeperbahn

In einem verrauchten Billardraum auf der Reeperbahn, im Rotlichtviertel Hamburgs, kommt 1965 Bettina Ratering zur Welt. Ihre Mutter ist vierzehn, schafft als Prostituierte an. Wenn die Kleine stört, wird sie mit Tabletten ruhig gestellt. Sie ist zwei, als sie erstmals von einem Freier der Mutter missbraucht wird.
Als Bettina fünf ist, erfahren die Behörden von ihrer Existenz. Sie kommt zu Pflegeeltern. Das Mädchen weint nicht, lacht nicht, redet nicht. „Meine Pflegeeltern konnten mir alles geben, was materiell war, was kulturell war, sie haben mich gefördert in alle Richtungen. Aber was wirklich gefehlt hat, war die Liebe, die Zuwendung, das Angenommen sein. Ich war irgendwo auch ein Stückchen – das hört sich vielleicht krass an – aber ich war ein Stückchen Material, die Liebe hat gefehlt.“
Auch in der Schule ist sie eine rebellische Aussenseiterin, nimmt Drogen: „ Im Konfirmandenunterricht hab ich regelmässig die Jungs zusammengeschlagen. Ich hatte keine Grenzen, auch in meiner Aggression nicht. Da war sehr wenig Selbstwertgefühl in mir und ich hab so auf mich aufmerksam gemacht. So war ich wer.“ Mit 15 haut sie ab, zurück zur leiblichen Mutter, zurück auf die Reeperbahn. „Als ich zu meiner Mutter kam, da hat sie mich erst mal ganz entsetzt angeguckt – voller Hass und hat gesagt: „Hau ab hier“ und hat mir noch 100 Mark in die Hand gedrückt. Doch ich hatte das Gefühl, ich sollte trotzdem bleiben.“
Abhängig
Um ihrer Mutter doch noch irgendwie zu gefallen, geht auch sie auf den Strich. Wie fast alle Prostituierte nimmt sie bald regelmässig Drogen und wird von einem Zuhälter abhängig. Als dieser eines Tages umgebracht wird, flüchtet sie per Anhalter nach Zürich. Bettina ist 18, als sie in der damaligen Drogenszene am Platzspitz landet. „Es ging schon dadurch los, dass ich nicht wusste, wo kriege ich meinen Stoff her. Es war auch schwierig, mich den Männern anzubieten. Ich bin in eine richtige Abhängigkeit von all diesen Leuten gerutscht, das war ganz schwierig, überhaupt zu überleben.“
Sie hält sich mit Diebstählen über Wasser, die Nächte verbringt sie in Unterführungen oder Hauseingängen. Eines Tages sitzt sie ohne Stoff, frierend und zitternd in einer Hausnische, als sich ein Mann zu ihr in den Dreck setzt. Es ist ein christlicher Prediger. Kurz zuvor hatte Bettina ihn, während er am Platzspitz gepredigt hatte, mit einer Flasche beworfen. Jetzt fürchtet sie sich vor einer Anzeige. Doch der Prediger spricht mit ihr über Gott und betet mit ihr. „Ich hab das nachgebetet, weil er das wollte. Da ist etwas passiert in mir, da ist wie ein warmer Strom durch mich durchgeflossen. Mir war ganz komisch. Ich hab mich auf einmal wohl gefühlt, die Schmerzen haben aufgehört, es war mir nicht mehr kalt und da hab ich gemerkt, dass was da ist, das anders ist, dass Gott anscheinend existieren muss.“
Sie wird in die Teestube der christlichen Gemeinschaft „New Life“ eingeladen und kann dort auch für einige Zeit wohnen. Zu ihrem Erstaunen hat sie keine Entzugssymptome, obwohl sie radikal auf Drogen verzichtet. Selbst Bier und Zigaretten sind nicht mehr nach ihrem Geschmack. Irgendwann bekommt sie wegen ihrer Pflegeeltern ein schlechtes Gewissen und kehrt zu ihnen zurück und bittet sie um Vergebung. Bettina orientiert sich nun an der Bibel und arbeitet für einige Zeit in einer Gärtnerei, bis sie sich an einer Bibelschule im appenzellischen Walzenhausen anmeldet. Der Schulalltag ist eine riesige Herausforderung, öfters packt sie ihre Sachen, will die Schule abbrechen. Doch sie ringt sich jeweils wieder durch und bleibt zwei Jahre.
Buch geschrieben
Nach Abschluss der Bibelschule kümmert sie sich für eine Kirche in Mörs in Deutschland um Jugendliche von der Strasse. Dabei entdeckt sie ihr Herz für suchtgefährdete junge Menschen. Sie holt das Abitur nach und studiert Sozialpädagogin. Heute ist sie verheiratet, hat drei Kinder und leitet zusammen mit ihrem Mann ein Hilfsprojekt für junge Männer, den Projekthof Hasselbrock von TeenChallenge in Norddeutschland nahe der holländischen Grenze. Ihre Erlebnisse, ihre Verarbeitung, ihre Erkenntnisse beschreibt sie eindrücklich in der Biographie „Ins Leben gesetzt,“ erschienen 2008 im Leuchter Verlag , ISBN 978-3-87482-907-6.
Quelle: Livenet.ch

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