Man erzählt sich von einem Volksstamm,

Man erzählt sich von einem Volksstamm, der für sich in den weiten Weiten der Mongolei lebte.

Der
Stammesführer wurde von allen "Schlemihl der Gerechte" genannt, weil er
ein sehr weiser und gerechter Richter war. Es gab keinen Streitfall,
den er nicht so schlichten konnte, dass alle mit dem Ergebnis glücklich
waren und weiter in Frieden miteinander leben konnten. Sein Sinn für
Gerechtigkeit wurde vielleicht nur von einer seiner anderen
Eigenschaften übertroffen: der tiefen Liebe zu seiner Mutter.

Eines
Tages fiel verschiedenen Leuten auf, dass offensichtlich ein Dieb unter
ihnen war. Immer wieder verschwanden Sachen einfach. Sie mussten
gestohlen worden sein.

Diebstahl war in
diesem Stamm ein sehr schlimmes Verbrechen. Darauf stand eine
fürchterliche Prügelstrafe, die kaum einer überlebte – und wenn, dann
nur als Krüppel, der sich kaum noch bewegen konnte.

Das Leben wurde ungemütlich. Jeder hatte Angst um seinen Besitz, und deshalb versuchte auch jeder, den Dieb zu erwischen.

Dann
kam der Tag, als zwei Männer vor Schlemihl erschienen und sagten, sie
hätten den Dieb auf frischer Tat ertappt. Der Prozess wurde für den
selben Abend angesetzt.

Der ganze Stamm war
versammelt, Schlemihl saß auf seinem Richterstuhl. Die beiden Ankläger
führten den erwischten Dieb hinein. Und alle hielten den Atem an, als
sie sahen, dass es niemand anders als – Schlemihls Mutter war. Seine
über alles geliebte Mutter, der er niemals etwas zu Leide tun konnte.
Möglicherweise hatte sie sogar darauf spekuliert…

Jedes Drumherumreden war zwecklos – sie war überführt, sie war schuldig.

Alle
redeten dann durcheinander, als sie sahen, wie Schlemihl auf seinem
Stuhl zusammensackte. Die einen meinten, er würde seiner Mutter die
Strafe erlassen, worauf er allerdings nicht mehr "der Gerechte" heißen
könne. Die anderen sagten, er werde seine Mutter prügeln lassen, eben
weil er gerecht sei – auch wenn es ihm das Herz brechen sollte.

Da erhob sich Schlemihl und blickte fest in die Runde. Es wurde mucksmäuschenstill.

"Mein
Urteil steht fest", sagte er. "Die überführte Diebin wird zu der
traditionellen Prügelstrafe verurteilt, wie es schon seit vielen Jahren
in unserem Gesetz steht. Die Strafe kann nicht erlassen werden."

Er atmete tief durch und wartete, bis sich das Gemurmel wieder gelegt hatte.

"Aber
da es sich um meine Mutter handelt, die ich über alles liebe" – und
wieder wurde es totenstill in der Menge – "ordne ich an, dass diese
Strafe nicht an ihr, sondern an mir zu vollziehen ist."

Sprach’s,
ließ sich fesseln und empfing die Strafe, die seine Mutter verdient
hatte. Man sagt, dass er noch ein paar Jahre gelebt hat, sich aber nie
mehr von seinem Lager erheben konnte. Auch Stammesführer konnte er
nicht mehr sein.

Aber so lange es sein Volk gibt, wird man Schlemihl, den Gerechten, Gütigen und Liebevollen, niemals vergessen.

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